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Lokaljournalismus leben! Ein Nachruf auf Paul-Josef Raue

Lokaljournalismus leben! Ein Nachruf auf Paul-Josef Raue Paul-Josef Raue beim European Newspaper Congress 2018.

Der Tod von Paul-Josef Raue Anfang März kann sein unglaubliches, kreatives Wirken für einen besseren Lokaljournalismus in Deutschland, Ost wie West, nicht auslöschen. Ganz im Gegenteil. Ein Nachruf von Anke Vehmeier und Berthold L. Flöper.

Bonn - „Wenn ein großer Mensch stirbt, ist die Trauer so groß oder klein wie bei jedem anderen Menschen. Wenn ein großer Journalist stirbt, mischt sich in die Trauer der Sieg über den Tod. Die Texte bleiben!“ Ex-„Spiegel“-Reporter Cordt Schnibben hat es genial formuliert. Wir fügen dankbar an und sind gewiss: Der Tod von Paul-Josef Raue Anfang März kann sein unglaubliches, kreatives Wirken für einen besseren Lokaljournalismus in Deutschland, Ost wie West, nicht auslöschen. Ganz im Gegenteil. 

Wir hatten das große Glück, Paul-Josef Raue privat wie beruflich über weite Teile unseres Berufslebens begleiten zu dürfen.

 

Übrigens: Er war damals in Marburg mit 34 Jahren der jüngste Chefredakteur einer Tageszeitung. Nie war es einfach mit ihm, aber immer lehrreich und aufregend. Dabei hat uns immer wieder seine Offenheit verblüfft. So zeigte er uns die Manuskripte, voller roter Tinte, über die sich sein Ex-Lehrer Wolf Schneider hergemacht hatte, als sie sich ans Schreiben des Buches  "Das Neue Handbuch des Journalismus" machten. Ein unglaubliches Unterfangen, wenn man sich die beiden Charakterköpfe vorstellt: beide auch Lehrer!

 

Raue hatte als Praktiker in den Kapiteln „Redaktion“, „Ethik“ und „Zukunft der Zeitung“ allerdings freie Hand für seine Thesen und Umsetzungen. Er scheute sich nicht, als Mitglied der Hamburger Schneider-Kaderschmiede und damit automatisch der bundesdeutschen Journalistenelite angehörend, sein Glück im Lokalen zu suchen. Dafür bekam er später den Titel „Mister Lokaljournalismus“. Es ist in vielen Redaktionen heute immer noch so: „Wer seinen Schreibtisch selten verlässt und nur ausnahmsweise recherchiert, wie der Politikredakteur, der genießt hohes Ansehen. Der Chefredakteur konferiert in den meisten Zeitungen täglich mit der Zentralredaktion und kümmert sich kaum um die Lokalredaktionen. Wer das ändern will, muss mit vielen Intrigen und Fallen in den Zentralredaktionen rechnen - aber, wer durchhält, auch mit dem großen Dank der Leser“, schrieb Raue vor einigen Jahrzehnten. 

 

Und in unseren zahlreichen Gesprächen, ob am Kaffeetisch in Marburg, beim Essen in Frankfurt, abends und mittags in Magdeburg oder in Braunschweig und Erfurt drehten sich die Gespräche immer wieder um Konzepte, wie es gelingen kann, eine Zeitung zu machen, die für die Leser und die Gesellschaft  gleichermaßen von Interesse sein kann und mit der sich auch noch Geld verdienen lässt. Aber: Ohne Unabhängigkeit vom Staat, war Raues Credo, ist ein guter Journalismus nicht möglich. Er hatte das große Glück, schon zu seinen Lebzeiten zu erleben, wie seine Vorstellung von qualitätsvollem Lokaljournalismus mit Leben gefüllt wird. Kein anderer Chefredakteur kann heute von sich sagen, so viele Lokalchefs und Chefredakteure in Verlagen „installiert“ zu haben, die wie er „Lokaljournalismus leben“.

 

Denn besonders große Freude machte es Raue, wenn er seinen journalistischen Nachwuchs selber formen durfte. Bei ihm gab es schon von Anfang seiner redaktionellen Tätigkeit an Volontärspläne und er war sich nicht zu schade, zu „fordern und zu fördern“. 

 

Schon früh kam Raue mit dem „Neuen Lokaljournalismus“, einem Kreis von jungen Lokalchefs, Verlegern wie Chefredakteuren zusammen, die sich um Dieter Golombek aus der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb scharten, in Kontakt. Er wurde Mitglied des Projektteams Lokaljournalisten der bpb. Für ihn waren die Thesen und Diskussionsrunden auf den Modellseminaren wie Manna für die Zukunft des Tageszeitungsjournalismus. Fortan sammelte Raue unermüdlich Konzept um Konzept und hatte zeitweise das größte Zeitungsarchiv Deutschlands. Recherchen und Serien baute er nach, erfand eigene. 

 

Alles begann für Paul-Josef Raue in Marburg. Dort gründete er mit Mitte 30 seine Familie und gestaltete ganz nach seinem Gusto eine Zeitung. Furore machte er erst einmal damit, dass er das Lokale auf Seite 1 der Tageszeitung hob und bei der kleinen Auflage mit einer überschaubaren Anzahl von Redakteuren eine Zentralredaktion installierte, die das Lokale wie Überregionale im Blick hatte. Und er verlangte viel von seiner Mannschaft. Aber: Zeitung machen in Marburg war unglaublich, das war revolutionär - Lokales auf Seite 1. Und wir Redakteure waren so ehrgeizig und so motiviert. Denn wer schafft es schon als Lokaljournalist mit seiner Geschichte als Aufmacher auf der Titelseite der Zeitung zu landen? 


Für die globale Universitätsstadt Marburg aber war das fast ein Sakrileg. Wie kann man nur? Aber Raue bildete und formte Volontär um Volontär als seine eigenen Leitungskräfte. Leitende Redakteure und Chefredakteure wurden einige!

 

Zeitweise hatte man das Gefühl, er baue ein Starensemble zum Gewinn der renommierten Journalistenpreise auf. Elf Auszeichnungen (Wächterpreis, Nannenpreis, Deutscher Lokaljournalistenpreis etc.) hat das Team immerhin geholt!  

 

Mit unglaublich viel Optimismus ging er Ende 1995 zur „Frankfurter Neuen Presse“ an den Main. Sein Mut und seine Konzepte kamen in der Redaktion überhaupt nicht an. Von Veränderungen, die schon lange in Amerika bei Regionalzeitungen der Fall waren, hatte man noch nichts gehört.

 

Überregionales spielte eine große Rolle. Alles, was Raue bislang aufgebaut hatte, wurde in Frage gestellt. Gewerkschafter sahen eher ihre Felle schwinden. Dabei spielte der Medienjournalismus zum Beispiel durch unfaire Berichte im „journalist“, dem Zentralorgan des Deutschen Journalisten-Verbandes, eine unrühmliche Rolle. Die damaligen „FAZ“-Anteilseigner ließen ihn schließlich fallen. Fast 25 Jahre später erlebte Joachim Braun in Frankfurt Ähnliches. 

 

In Magdeburg bei der „Volksstimme“ fand er wieder goldenen Boden für viele wunderbare Experimente im Lokaljournalismus und führte auch diese Redaktion mit einer „Jahrhundertserie“ zum Deutschen Lokaljournalisten-Preis der Konrad-Adenauer-Stiftung. Neueste Leserforschung war dort sein Anliegen. Und ich erkannte in ihm erstmals den Chef, der jede Initiative aus der Redaktion förderte und anmahnte. Manchen war es zu viel. Unglaublich und wunderbar war seine Diskussionslust, man durfte gegenhalten, nur am Ende musste eine noch bessere Zeitung stehen. Was gar nicht ging, war eine  Anbiederung an die „Herrschenden“. Politiker wurden nicht mit Samthandschuhen angefasst. Was er in seinen Vorlesungen predigte, setzte er tatsächlich um.    

 

Seine glücklichste Zeit hatte Raue sicher als Chef der „Braunschweiger Zeitung“, die der „WAZ“ - später der Funke-Gruppe gehörte, und noch bestens mit Personal und Finanzen ausgestattet war. Dort hat er seinen, den Lokaljournalismus für die Menschen, forciert und geliebt. Die „Bürgerzeitung“ ist sein Markenzeichen. Auch dafür bekam er den Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung aus der Hand des Bundespräsidenten.

 

Im Jahre 2010 packte man Raue noch einmal bei seiner Eitelkeit. Er übernahm die Leitung der ebenfalls zur „WAZ“-Mediengruppe  zählenden „Thüringer Allgemeinen“ („TA“) mit Sitz in Erfurt.

Raue setzte die sogenannten Reformen der „innovativen Redaktionsstrukturen“ in Thüringen um: Einführung eines Großraum-Büros mit einem Thüringen-Tisch für 14 Lokalredaktionen und einem Nachrichten-Tisch.

 

Er hat die Mantel-Ressorts aufgelöst und überall die Trennung in Producer und Reporter eingeführt. Auch hier gab es wieder Widerstand. Raue mache aus dem Blatt eine „Heimatzeitung“, wie es hieß. Der bizarre Kulturkampf beschäftigte bundesweit die Medienjournalisten, die offensichtlich wie eh und je vom Lokaljournalismus so weit entfernt waren, wie die Kreisklasse von der Champions League. „Raues Konzept ist richtig“, sprang ihm sein Lehrmeister Schneider bei: „Wenn die Regionalzeitungen überleben wollen, müssen sie in der Lokalberichterstattung stark sein.“

 

„25 Jahre Einheit, 25 Jahre Demokratie im Osten, 25 Jahre Thüringer Allgemeine“ konnte Raue noch mit einem Symposium feiern. Bewusst stellte er noch einmal die Leser in den Mittelpunkt. „Wir kennen ihre Wünsche, schätzen ihre Weisheit, aber wir kennen auch ihre Verführbarkeit. Wir lassen unsere Leser zur Wort kommen: Denn ihnen gehört eigentlich die Zeitung. Wir debattieren gern mit ihnen, aber bitte ich auch um Respekt“, sagte Raue: Lügenpresse war einmal, heute sind wir ehrbare Journalisten, die aus Schaden klug geworden sind, frei sind und unabhängig. Im September 2015 verabschiedet er sich aus seiner aktiven Zeit mit dem Buch „Die unvollendete Revolution“. Eine Bilanz eines Journalistenlebens, geschrieben aus den Erfahrungen eines Redakteurs in vielen deutsch-deutschen Jahren. Es ist getragen von einer großen Sympathie für die Menschen, denen in der DDR die einzig wirkliche Revolution in Deutschland gelungen ist. 

 

Paul-Josef Raue war humorvoll, klug, hartnäckig, respektiert („aber ein schlechter Autofahrer“), empathisch, einnehmend, entgegenkommend, auch beharrlich: In seinen Entscheidungen ebenso wie in seiner Haltung. Raue war streitbar und souverän. Mag sein, dass sein Stil nicht überall Freunde fand, wir haben ihn schätzen gelernt.

 

Gedanken von Anke Vehmeier, sie leitet das Lokaljournalistenprogramm der Bundeszentrale für politische Bildung und war bei Raue Volontärin in Marburg und Berthold L. Flöper, ihrem Vorgänger bei der bpb, der mit Raue kurze Zeit in der Chefredaktion der Magdeburger "Volksstimme" zusammenarbeitete und mit ihm zahlreiche Seminare und Buchprojekte realisiert hat.