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„Bild“ steht vor Kurswechsel

„Bild“ steht vor Kurswechsel Stephan Weichert (Foto Jörg Müller)

Unter dem neuen Gesamt-Chefredakteur Julian Reichelt (37) entferne sich das Blatt in Print und Digital von jener Form des Boulevard-Journalismus, wie sie lange Tradition bei der Zeitung war, sagt der Hamburger Medienwissenschaftler Stephan Weichert.

Berlin (dpa) − Die „Bild“-Zeitung steht nach Einschätzung des Medienexperten Prof. Stephan Weichert vor einem Kurswechsel. Unter dem neuen Gesamt-Chefredakteur Julian Reichelt (37) entferne sich das Blatt in Print und Digital von jener Form des Boulevard-Journalismus, wie sie lange Tradition bei der Zeitung war, sagt der Hamburger Medienwissenschaftler im dpa-Interview.

Passen Boulevard-Journalismus und Internet zusammen?

Stephan Weichert: Sehr gut sogar. Boulevard hat immer schon pointiert und schnell gearbeitet und Exklusivität in den Vordergrund gestellt. Die originelle Bildsprache machen sich aber auch immer mehr andere Medien zu eigen, etwa „Spiegel Daily“ oder „Buzzfeed“. Der Leser muss im Netz direkt angesprochen werden. Das ist Aufmerksamkeitsgenerierung auf höchstem Niveau.

Wie wichtig ist Exklusivität angesichts der Informationsflut im Netz?

Ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal. Da unterscheiden sich die Ton angebenden Medien, von denen, die wie Lemminge alles nachplappern oder Geschichten nur nacherzählen, die andere schon gebracht haben.

Viele Web-Seiten erreichen aber doch auch hohe Klickzahlen mit fremden Inhalten?

Das ist eben die andere Strategie: Es geht dabei dann nicht um die eigene journalistische Leistung, sondern um Reichweiten, Suchmaschinen-Optimierung und maximalen Gewinn.

„Bild“ und andere Zeitungen verbreiten ihre Inhalte auch über soziale Medien, vor allem Facebook. Wie wichtig sind solche Plattformen?

Die Euphorie ist einer zurückhaltenden Skepsis gewichen. Viele Titel wie die „New York Times“ ziehen sich von Facebook zurück, weil sie merken, dass soziale Medien zur Unkenntlichkeit der eigenen Marke beitragen. Es gibt auch Medienhäuser, die darauf schwören. Ich höre aber immer mehr Stimmen, die sagen: „Am Ende ist das die falsche Strategie, weil wir Leute noch stärker von unserer Homepage den Sozialen Netzwerken zuführen − ohne dass wir uns selber dabei profilieren“.

Wie kann eine Zeitung ihre Leser halten − oder gar die Abgewanderten zurückgewinnen?

Es setzt sich auch bei uns eine Erkenntnis aus den USA durch: Es ist wichtiger, treue Stammleser anzusprechen als die breite Masse. Redaktionen müssen aber nicht nur auf allen Kanälen präsent sein, sondern auch auf die Straße gehen, den Newsroom öffnen, Veranstaltungen anbieten, Menschen treffen.

Kann „Bild“ in solchen Nischen noch Aufmerksamkeit erzeugen?

Die Rolle als medialer Agenda-Setter ist von der Print-„Bild“ zu „Bild.de“ übergegangen − auch dank des neuen Gesamt-Chefredakteurs Julian Reichelt, der mit pointiert-klugen Meinungen auch in den wichtigen Talkshows vertreten ist. Da ist eine neue Offenheit zu erkennen, die mit dem Kampagnen-Journalismus der 70er- und 80er Jahre nichts mehr zu tun hat.

Haben Sie ein Beispiel?

Von Schlagzeilen über Promis haben die Leute irgendwann genug. Das hat auch „Bild“ erkannt. Dafür wird mit neuen Darstellungsformen experimentiert, etwa in den erstklassigen Reportagen von Paul Ronzheimer aus Krisengebieten mit 360-Grad-Videos. Das hat mit traditionellem Boulevard nichts mehr zu tun.

Wo liegen die Stärken von „Bild“ heute?

„Bild“ will seine Leser nicht mehr politisch erziehen, die Redaktion berichtet viel weniger ressentimentgeladen und impulsiv. Junge Leser interessieren sich nicht mehr so sehr für das politische Klein-Klein, sondern für die gesellschaftspolitischen Verhältnisse insgesamt. Das wird auch bei der Diskussion um die AfD oder Donald Trump deutlich, beides Phänomene, die zu einer Repolitisierung geführt haben. Damit die „Bild“ bei jungen Zielgruppen kenntlich bleibt, sollte sie stärker Sprachrohr des „kleinen Bürgers“ werden, wie es ihr Gründer Axel Springer postulierte und es in einschlägigen Berichten über ausufernde Mietpreise ja immer wieder versucht wird.

ZUR PERSON: Stephan Weichert ist Professor für Journalismus und Kommunikationswissenschaft in Hamburg und wissenschaftlicher Leiter des Studiengangs Digital Journalism an der Hamburg Media School. Seine Schwerpunkte sind digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit sowie Innovations- und Startup-Ökonomie in Journalismus und Medien.

 

Interview: Esteban Engel, dpa