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Ein Jahr nach Fall Relotius: Mehr Quellenchecks in Redaktionen

Eines der wichtigsten Nachrichtenmagazine Deutschlands wird vor einem Jahr Schauplatz eines Fälschungsskandals. „Der Spiegel“ startet danach eine akribische Aufarbeitung und ändert Strukturen in seinem Haus. Auch andere Redaktionen arbeiten nun anders als damals.

Hamburg/Berlin (dpa) − Das Jahr 2018 neigte sich schon langsam dem Ende zu, als das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ mit einem Fälschungsskandal an die Öffentlichkeit ging. Dieser sollte die gesamte Medienbranche erschüttern. Der bis dahin renommierte und mit vielen Preisen überhäufte „Spiegel“-Autor Claas Relotius erfand immer wieder in Artikeln Szenen, Gespräche und Ereignisse. Das Magazin in Hamburg arbeitete den Fall in einer aufwendigen Dokumentation auf und arbeitet derzeit noch an neuen Standards. Es gab auch personelle Konsequenzen. Wie haben andere Redaktionen in Deutschland auf den Fall Relotius reagiert?

 

Eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter mehreren Medien ergab rund ein Jahr danach dieses Bild: Es gibt mehr Faktenchecks. Redaktionelle Standards wurden überarbeitet. Leitfäden entstanden oder entstehen gerade.

 

Der Chefredakteur der überregionalen „Süddeutschen Zeitung“ (SZ), Wolfgang Krach, betont: „Angestoßen durch den Fall Relotius, haben wir das Prüfen von Fakten nochmals deutlich verstärkt − unabhängig davon, wie bekannt die Autorin oder der Autor der jeweiligen Redaktion sind.“ Er erwähnt an anderer Stelle einen weiteren Aspekt: „Wir entwickeln zudem gerade zusammen mit der hausinternen IT eine zentrale Datenbank, das Recherche-Materialarchiv, das auf künstlicher Intelligenz basiert und der Redaktion erlaubt, Recherchen im Zweifelsfall schneller und genauer zu prüfen.»

 

Bei der Wochenzeitung „Zeit“ und „Zeit Online“ setzte man sich nach Bekanntwerden des Falls Relotius in größerer Runde zusammen, um über mögliche Folgen zu diskutieren, wie der Chefreporter der „Zeit“-Chefredaktion, Stefan Willeke, erläutert. Eine Arbeitsgruppe arbeitete neue Regeln aus, die für die Mitarbeiter bindend sind. Willeke betont auch: „Seit Juli dieses Jahres werden Überprüfungen einzelner Artikel bei „Zeit“ und „Zeit Online“ regelmäßig vorgenommen, einmal im Monat.“ Ein Kollege oder eine Kollegin nehme sich dabei bereits erschienene Artikel vor und überprüft diese auf sachliche Richtigkeit. Die Beiträge werden von einem Zufallsgenerator ausgewählt, kein Autor sei davon ausgenommen.

 

Als Folge aus dem Fall Relotius arbeitet auch der Westdeutsche Rundfunk (WDR) derzeit an einem Papier − „10 Grundsätze zur Glaubwürdigkeit“. Es soll ein bestehendes Grundsatzpapier zur investigativen Berichterstattung ergänzen, wie es beim Sender heißt. Ein Punkt aus dem Papier: Dokumentation und Transparenz des Rechercheweges mit Nennung der Quellen und Kennzeichnung von Archivmaterial, ob vor Ort recherchiert wurde oder nicht. Zudem seien die Prüfstandards bei der Abnahme von Filmproduktionen ausgeweitet worden. Bislang habe nur für die Abnahme im WDR selbst das Vier-Augen-Prinzip gegolten. Jetzt werde es schon auf der Ebene der Produzenten angewandt, also noch bevor ein Film in die WDR-Abnahme geht.

 

Bei der überregionalen „Tageszeitung“ (taz) in Berlin gab es laut Chefredakteur Georg Löwisch Diskussionen nach dem Fall. „Viele, die im Haus häufig mit längeren Reportagen und Recherchen arbeiten, haben sich immer wieder zusammengesetzt («Relotius-Stammtisch»), um den Blick zu schärfen: Untereinander, aber auch mit Hilfe von Gästen, die zum Beispiel zum Umgang mit Quellen gesprochen haben.“ Zu den Folgen sagt er: „Zum Beispiel haben wir 2019 in vielen Reportagen und Reports der Quellentransparenz mehr Raum eingeräumt. Effekt: Sie werden länger, lesen sich mitunter auch mal sperrig. Aber die entsprechenden Passagen ermöglichen es den Leserinnen und Lesern, unsere Wege nachzuvollziehen.»

 

Beim Hamburger Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr, der unter anderem das Magazin „Stern“ im Portfolio hat, erläutert eine Sprecherin zu Folgen aus dem Fall Relotius: „Wir haben unsere Abläufe in der Dokumentation genau angeschaut und unsere ohnehin hohen Qualitäts- und Sorgfaltsstandards noch weiter geschärft.»

 

Der Fälschungsskandal beim „Spiegel“ hatte beim ZDF keinen Einfluss auf bestehende Grundsätze und Transparenz-Angebote, wie es vom Sender in Mainz heißt. Auf der ZDF-Homepage etwa werden redaktionelle Entscheidungsprozesse erläutert und, nach welchen Grundsätzen gearbeitet wird. Zugleich betont der Sender: Es sei unerlässlich, journalistische Standards regelmäßig zu überprüfen und Ideen zu diskutieren. Die Enthüllungen um Relotius hätten einen aktuellen Anlass dafür geboten.

 

Nach dem Relotius-Skandal gab es weitere unterschiedlich gelagerte Beispiele aus Redaktionen in Deutschland, bei denen es um Manipulationen durch Autoren ging. Die Fälle beschränkten sich nicht auf Printmedien.

 

Der Chefredakteur von RTL, Michael Wulf, verweist auf einen Fall in seinem eigenen Hause, wonach ein Reporter jahrelang getäuscht und Beiträge manipuliert habe. „Daraufhin haben wir unsere Abnahmeverfahren noch einmal deutlich ausgebaut und weitere Maßnahmen eingeleitet.“ Wulf erläutert, dass ein Team von wechselnden Mitarbeitern zusätzlich zu den verantwortlichen Chefs vom Dienst regelmäßig und stichprobenartig Beiträge überprüfe und dazu auch das Rohmaterial sichte. „In einem neu eingerichteten Postfach können Mitarbeiter auch anonym Hinweise auf mögliche Unregelmäßigkeiten geben, Zweifel anmelden und Verdachtsmomente benennen“, ergänzt er.

 

Die Deutschlandfunk-Chefredakteurin Birgit Wentzien erwähnt weitere Beispiele: „Eine Autorin hat auch in einem unserer Programme eine Geschichte nachweislich erfunden.“ Und ein Autor habe nicht gefälscht, aber betrogen. Er sei nicht am Ort des Berichtsgeschehens gewesen, sondern habe seine Anwesenheit durch Reportageelemente lediglich vorgetäuscht.

 

Wentzien betont, dass in der Folge ein programmübergreifender Prozess angestoßen worden sei, in dem auch das „Journalistische Selbstverständnis“ überarbeitet werde. Dabei handelt es sich um Leitlinien der journalistischen und publizistischen Arbeit. „Die Diskussion ist noch lange nicht abgeschlossen.“ Einige Änderungen stehen demnach aber schon fest: „Rechercheprotokolle sind zukünftig selbstverständliche Dokumentationen für Arbeitsergebnisse und Vertrauenspersonen in unseren Programmen prüfen strittige Beiträge auf allen Ausspielwegen, auch auf eigene Initiative“, ergänzt Wentzien.

 

Der „Spiegel“, der derzeit noch an neuen Standards arbeitet, hatte im Mai einen Abschlussbericht zur Fälschungsaffäre vorlegt. Die Redaktions- und Verlagsspitze gab damals zu, dass sich der „Spiegel“ von Relotius habe einwickeln lassen und in einem Ausmaß Fehler gemacht habe, das gemessen an den Maßstäben des Verlages unwürdig sei. Es wurde angekündigt, dass eine unabhängige Ombudsstelle eingerichtet werden soll, die möglichen Hinweisen auf Ungereimtheiten in Beiträgen nachgehen soll. Es gab daneben bereits personelle Konsequenzen und das Gesellschaftsressort wurde umorganisiert.

 

Auch abseits des „Spiegels“ und anderen Redaktionen strahlte der Fall Relotius aus − auf die Verleihung von Medienpreisen. Relotius hatte mehrere Preise gewonnen, darunter mehrmals den Reporterpreis, den er zurückgab. In weiteren Fällen wurden ihm Preise aberkannt.

 

Der Fall Relotius wird auch in Zukunft weiter beschäftigen. Unlängst war bekanntgeworden, dass Claas Relotius gegen ein Buch von Autor Juan Moreno vorgeht. In dem Werk „Tausend Zeilen Lüge − Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ beschreibt „Spiegel“-Autor Moreno, wie er das Vorgehen seines Ex-Kollegen enttarnte.

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