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Sind die Medien schuld am erneuten Lockdown?

Sind die Medien schuld am erneuten Lockdown? Stephan Russ-Mohl

Emotional wird eine Debatte geführt, die ein „SZ“-Gastbeitrag von Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl entfacht hat. Welchen Anteil haben die Medien am Lockdown?

München – Die „Süddeutsche Zeitung“ hat einen Gastbeitrag von Stephan Russ-Mohl online veröffentlicht. Der Medienwissenschaftler schreibt darin unter der Überschrift „Das Corona-Panikorchester“: „Mich beunruhigen seit Monaten die vielen Trompeter im Corona-Panikorchester. Sie verbreiten Angst und Schrecken. Als Medienforscher beobachte ich mit großer Sorge den Overkill, mit dem Leitmedien, insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen, aber auch Zeitungen wie ,SZ‘ oder ,FAZ‘, über die Pandemie berichten.“ 

 

Russ-Mohls These: „Nicht die Regierenden haben die Medien vor sich hergetrieben, wie das Verschwörungstheoretiker so gerne behaupten. Vielmehr haben die Medien mit ihrem grotesken Übersoll an Berichterstattung Handlungsdruck in Richtung Lockdown erzeugt, dem sich die Regierungen in Demokratien kaum entziehen konnten.“

 

Der Medienwissenschaftler, der in Berlin und Lugano lehrte, belegt das mit Zahlen. An manchen Tagen hätten sich bis zu 70 Prozent der Berichte um Corona gedreht, so Russ-Mohl, der als Quelle das Institut für Medienforschung in Köln nennt 

 

Roland Schatz, Gründer des Schweizer Forschungsinstitut Media Tenor, hatte in einem auf kress.de exklusiv erschienenen Beitrag bereits im März festgestellt, die deutschen Corona-Berichte seien mehr als jene zu den Terrorattacken auf das World Trade Center im Herbst 2001.

 

Stefan Russ-Mohl führt in seiner Medienkritik in der „SZ“ weiter aus, dass sich die Medien, „zum Teil von Algorithmen gesteuert“, in ihrer Auswahl mehr an der Nachfrage der Nutzer orientierten. Genau an dieser Stelle werde die „Aufmerksamkeitsökonomie“, welche die Gesellschaft präge, zum Verhängnis: „Überaufmerksamkeit und einseitige Fokussierung erzeugen beim Publikum Interesse, aber eben auch Angst; diese Angst generiert steigende Nachfrage nach Corona-News, die inzwischen ja online in Echtzeit messbar ist. Die Nachfrage wiederum verleitet Redaktionen dazu, diese zu bedienen und die Berichterstattung weiter auf die Pandemie hin zu verengen – bis hin zum Tunnelblick.“

 

Russ-Mohl meint, dass unter solchen Bedingungen, nicht nur Medien lieferten, was ihre Nutzer wollten, sondern auch Politiker, was ihre Wähler wünschten. 

 

Am Ende seines Textes empfiehlt der Medienwissenschafter „weniger Angstmache in den Medien“, die mittelfristig den News-Totalverweigerern Auftrieb geben werde.

 

Russ-Mohls Texte ist bis jetzt auf sz.de über 20.000 Mal geteilt geworden. Auch in sozialen Medien wie Twitter findet die Medienkritik viel Beachtung – und Zustimmung: Der Bayerische Journalistenverband sieht einen sehr interessanten und sachlichen Beitrag. Die Fachjournalistin Silke Liebig-Braunholz meint: „Man möchte einer Vielzahl von Medienschaffenden zurufen: Lernt Journalismus nochmal von vorn, ihr habt da etwas missverstanden!“ Die Autorin Susanne C. Lettenbauer wirft ein: „Was schreiben, wenn es mal wirklich ernst wird!?“ 

 

„Spiegel“-Journalist Marius Mestermann kritisiert, Russ-Mohl differenziere nicht, ob es bei der großen Zahl an Berichten um das Infektionsgeschehen und andere direkt mit dem Virus verbundene Neuigkeiten gehe, oder z.B. all die sozialen Konsequenzen. Natürlich werde massiv über diese globale Krise berichtet. „That's the job“, so Mestermann. 

 

Der Journalist Stefan Fries (u.a. WDR und DLF) schreibt auf Twitter: „In der @SZbehauptet Stephan Russ-Mohl, 'die Medien' hätten den Menschen in der Corona-Pandemie Angst gemacht, liefert aber keinen richtigen Beleg dafür. Wenn es nur die Menge an Berichterstattung sein soll, wie er behauptet, ist das etwas dünn.“ Miriam Hollstein, bisher „Bild am Sonntag“, bald Chefreporterin bei Funke, findet, dass ihr „Ex-Prof“ Russ-Mohl die üblichen Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie beschreibe. Sie stimmt nicht in allem zu, aber diskussionswürdig sei sein Beitrag allemal.