Ausbildung
Newsroom

Damit Migranten Zeitungsartikel verstehen: „Schreibt nicht so kompliziert!“

Sie leben seit Jahrzehnten Tür an Tür in Deutschland, in den Massenmedien kommen Migranten aber nur am Rande vor. „Sorgt für Normalität“, fordert der Medienexperte und Dozent Christian Sauer, der mit einem Seminar zeigen möchte, wie Zeitungen neue Leser und Abonnenten gewinnen können.

Bonn -  In einem neuen Seminar (18. und 19. April 2013, in Bonn) zeigt die Akademie Berufliche Bildung der deutschen Zeitungsverlage (ABZV), auf welche Hürden Menschen mit ausländischen Wurzeln bei der Zeitungslektüre treffen - und was Redaktionen schon heute versuchen, um Migranten als Leser zu gewinnen.

Zudem entwickeln die Seminarteilnehmer eigene Ideen und Konzepte, Migranten als regelmäßige Leser zu gewinnen. Seminarleiter ist Christian Sauer, früher stellvertretender Chefredakteur von "Chrismon". Im Gespräch mit NEWSROOM erklärt der erfahrene Medienmacher auch, dass Anzeigenabteilung, Vertrieb und Redaktion gemeinsam eine Charmeoffensive starten sollten.

NEWSROOM: Herr Sauer, lesen Migranten Tageszeitungen?

Christian Sauer: Viele tun das sicherlich, aber insgesamt lesen Migranten nicht in der Zahl Zeitung, die ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Und wenn, dann greifen viele aus absolut nachvollziehbaren Gründen eher zur „Bild“, denn die arbeitet mit einer starken Bildsprache, drückt sich umgangssprachlicher aus und ist hervorragend redigiert, die Texte sind also auf Verständlichkeit getrimmt. Nicht-Muttersprachler fühlen sich in Boulevardmedien schneller zu Haus als in der Regionalzeitung.

 

Christian Sauer, promovierter Erziehungswissenschaftler, war stellvertretender Chefredakteur bei "Chrismon". Er leitet das ABZV-Seminar "Attraktive Zielgruppe: Einwanderer".

 

NEWSROOM: Glaubt man den Verlagsleitungen verschiedener Regionalblätter, ist die Zahl von Migranten, die eine Tageszeitung abonnieren, ziemlich gering.

Christian Sauer: Das sehe ich genau so - und finde es sehr schade. Viele Migranten sind höchst integrationswillig, und die Tageszeitung vor Ort wäre eine Hilfe für sie. Doch ihr Lokalblatt bleibt ihnen fremd. Umgekehrt haben auch die Verlage ein allerhöchstes Interesse daran, Migranten als Leser, User und Kunden zu gewinnen. Aber die Zeitungen geben sich wenig Mühe, auf diese Zielgruppe zuzugehen – außer mit gelegentlichen, bemüht freundlichen Berichten über Kulturfeste oder Fußballvereine.

NEWSROOM: Was macht Einwanderer als Zielgruppe so interessant?

Christian Sauer: Ich kenne im Moment kaum ein spannenderes Milieu als das der aufstiegsorientierten Deutschen mit Wurzeln im Ausland. Ich sage bewusst nicht Migranten, weil es so technisch klingt und sich so anhört, als würden diese Menschen morgen weiterziehen. Egal ob mit deutschen Pass oder ohne, diese Einwanderer haben sich Zugang zur weiterführenden Bildung erkämpft, sie streben wirtschaftlich und sozial nach oben, sie gründen Unternehmen, mischen sich ein. Sie wagen etwas, und sie gestalten auch politisch zunehmend mit. Abo-Zeitungen müssten sich doch alle Finger nach dieser Zielgruppe lecken – und nach solchen Anzeigenkunden.

NEWSROOM: Wie sollten Redaktionen mit Migranten-Themen umgehen? Werden Einwanderer-Themen zu oft im Lokalteil thematisiert, drohen schon die ersten Alt-Leser, sie wollten diese Themen in ihrem Blatt nicht lesen!

Christian Sauer: Es gibt zwar sicher gute Ideen, wie man diese Zielgruppe mit Extra-Seiten, Extra-Teilen oder Extra-Apps ansprechen kann. Aber ich glaube, das wird bestenfalls zu Teilerfolgen führen. Ich sehe Ghetto-Lösungen aller Art - auch die wohlmeinenden – mit Misstrauen. Und ich habe sogar Verständnis dafür, wenn mancher Stammleser nicht glücklich über eine 25-teilige Serie über "Nationen aus aller Welt in unserer Stadt" ist.  

NEWSROOM: Und was dann?

Christian Sauer: Normalität. Ich möchte manchmal ausrufen: Liebe Redaktionen, bitte nehmt Bürger mit ausländischen Wurzeln genau so Ernst und genau so auf den Arm wie alle anderen auch. Macht Euch die gleichen Gedanken über sie wie über den Rest der Bürger in Eurem Verbreitungsgebiet. Schaut hin, wie und wo sie wohnen, was sie arbeiten, wie sie leben. Welche Schulen sie besuchen, welche Firmen sie gründen, welche Feste sie feiern. Aber bitte, schaut wirklich hin, denn diese Menschen artikulieren sich nicht von allein in der Zeitung. Da gibt es keine eingeübten Verfahren und keine engen Kontakte zur Presse wie bei vielen deutschstämmigen Bürgern mit ihren Vereinen und Initiativen. Es braucht mehr Recherche, gute Einwanderer-Themen liegen nicht auf dem Weg.

 

NEWSROOM-Tipp: Der "Mediendienst Integration" (Leitung: Ferda Ataman), ein Projekt des "Rats für Migration e.V.", einem bundesweiten Zusammenschluss von Migrationsforschern, ist ein Service für Medienschaffende und bietet aktuelle Informationen rund um die Themen Migration, Integration und Asyl in Deutschland.

 

NEWSROOM: Worauf sollten Redaktionen denn verzichten?

Christian Sauer: Erstens auf die Problem-Brille. Diese Bürger haben sicher ihre Probleme, und es sind an mancher Stelle vielleicht andere als jene, die aus der Mehrheitsgesellschaft stammen. Aber sie leisten auch einen Beitrag zum Gemeinwesen. Redaktionen sollten bitte über beides berichten. Zweitens auf den besorgten Unterton. Da klingt manchmal durch: Wir wollen uns politisch korrekt verhalten, deshalb widmen wir uns jetzt mal „unseren ausländischen Mitbürgern“. Das interessiert dann weder Migranten noch Stammleser.

NEWSROOM: Reicht es also aus, ab und zu Migranten-Themen zu veröffentlichen?

Christian Sauer: Nein, Normalität heißt: Einwanderer kommen vor, wenn es etwas Spannendes zu berichten gibt. Ich gehe bei einer so dynamischen Bevölkerungsgruppe davon aus, dass das sehr häufig der Fall ist – oder dass die Redaktion die spannenden Aspekte findet und herausarbeitet.

NEWSROOM: Aber glauben Sie denn, dass Migranten dieses Medieninteresse rasch bemerken und dann in großer Zahl die Zeitung abonnieren?

Christian Sauer: Nein, das glaube ich nicht. Vor allem weil es noch das Hindernis Sprache gibt. Viele Bürger mit ausländischen Wurzeln haben keine Freude daran, Zeitungstexte zu lesen – sie erinnern sie an die Schule und an die Mühe, komplexe deutsche Sachtexte zu verstehen. Wenn die Redaktionen daran etwas ändern wollen, helfen keine Ghetto-Rubriken mit Pidgin-Sprache, da hilft nur eins: verständlich schreiben.

NEWSROOM: Das ist ja schon länger Thema in vielen Redaktionen.

Christian Sauer: Richtig, das bedeutet nur: Setzt endlich um, was Ihr als Volos gelernt habt! Kurze Sätze, einfache Ausdrucksweise. Und dann gibt es noch ein paar neue Regeln. Zum Beispiel: Benutzt weniger Synonyme. Mancher Redakteur hat ja den Ehrgeiz, nie den gleichen Begriff zweimal zu benutzen. Ein Sportler heißt dann in einem Absatz „Peter Müller“, der „Hannoveraner“, „der Leinestädter“ und „der Freißstoßkünstler“. Man weiß heute aus der Verständlichkeitsforschung, dass an so etwas für viele Nichtmuttersprachler scheitert. Ohne ein eindeutig benanntes Subjekt finden sie keinen roten Faden im Satz.

NEWSROOM: Nimmt so eine extrem vereinfachte Sprache Zeitungstexten nicht ihren Reiz?

Christian Sauer: Vielleicht ja. Ich gebe zu, dass ich bei einigen Vereinfachungsregeln, die ich verkünde, selber schlucken muss. Aber der Reiz, den Sie ansprechen, ist ein eher insiderischer Reiz. Der Autor, seine Kollegen und eine Handvoll Kenner lesen so etwas vielleicht mit Genuss. Viele andere steigen aus. Ich habe nichts gegen eigenwillige Texte, die auch stilistisch mal aus dem Rahmen fallen. Aber wenn wir schon über Ghettos reden: Schaffen wir doch in jedem Teil der Zeitung Rubriken für diese anspruchsvollen, ungewöhnlichen Texte. Und sorgen wir dafür, dass der Rest der Zeitung leicht zugänglich ist. Das werden uns nicht nur Migranten, sondern auch viele andere Leser danken. Außerdem ist geglückte Integration doch häufig ein zweiseitiger Prozess – ich finde es in Ordnung, wenn sich auch für die Mehrheit was ändert.

NEWSROOM: Was können Anzeigenabteilung und Vertrieb leisten, um Einwanderer als Leser zu gewinnen?

Christian Sauer: Ich kann aber nur jedem Medienunternehmen raten, Anzeigenleute, Vertrieb und Redakteure an einen Tisch zu holen, um sich der Zielgruppe Einwanderer ausgiebig zu widmen. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich eine Charmeoffensive vorzustellen, bei der alle Teile des Medienunternehmens dieser Zielgruppe signalisieren: Wir finden Euch interessant und sind bereit, etwas zu tun, das Euch wirklich nützt. Alles Weitere würde sich über den Kontakt zur Zielgruppe ergeben. Migranten können ja gut sagen, was sie brauchen, wenn man sie erst mal fragt.

Die Fragen an Christian Sauer, Journalist, Coach und Redaktionsberater in Hamburg, stellte NEWSROOM-Chefredakteur Bülend Ürük.