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Verlernen wir das Denken? Wie TikTok und KI unsere Kultur leise umprogrammieren

Verlernen wir das Denken? Wie TikTok und KI unsere Kultur leise umprogrammieren Max Penk (Foto: Markus Burke)

Wir scrollen, wir prompten, wir performen – aber denken wir noch selbst? Max Penk zeigt, wie TikTok und KI nicht nur unsere Arbeit, sondern auch unser Fühlen und Denken verändern. Was wir dabei verlieren, merken wir oft erst, wenn es längst weg ist.

Berlin – In der aktuellen Folge seiner campaign-Kolumne „Future Echo“ beschäftigt sich Max Penk, Creative Innovation Director der Kreativagentur David+Martin, mit der Frage, wie TikTok und KI uns, unsere Sprache, unser Denken und unsere Kultur verändern – und was wir dabei verlieren, ohne es zu merken:

 

TikTok zeigt, wie schnell ein Trend entsteht.
Künstliche Intelligenz zeigt, wie schnell ein Job verschwindet.
Beides ist sichtbar: das ist die erste Ordnung.
Was wir dabei mit uns machen lassen, ist die zweite.
Was wir dabei verlieren, ohne es zu merken, ist die dritte.
Und genau da wird’s gefährlich – und spannend … 


Willkommen in der neuen Welt, in der alles schneller voran geht, aber niemand mehr weiß, wohin. Niemand fragt: Wofür eigentlich? Denn was uns wirklich beschäftigen sollte, ist nicht die Technik selbst. Es ist die Frage: „Was passiert mit uns, mit unserer Sprache, unserem Denken, unserer Kultur, wenn wir anfangen, wie diese Systeme zu ticken?“


Ordnung 1: Was passiert, wenn’s passiert?
TikTok ist nicht nur irgendein App-Phänomen. Es ist die Turbo-Version von kultureller Evolution. Ein Trend startet, wird kopiert, remixt, übersättigt und stirbt. Alles binnen 72 Stunden. KI ist da ganz ähnlich unterwegs: Ein Feature wird released, alle reden drüber, bauen‘s ein und niemand fragt mehr warum.
Das ist die erste Ordnung: sichtbare Wirkung, direkt und laut.
Wir sehen neue Features, neue Formate, neue Trends. Wir staunen kurz und scrollen weiter.


Ordnung 2: Was passiert mit uns?
Langsam, leise, tiefer. Das ist die zweite Ordnung.
Nicht, was Systeme tun, sondern was sie mit uns machen.
TikTok hat eine neue Sprache hervorgebracht: halb Tarnung, halb Selbstinszenierung.
Einerseits umgehen wir mit Begriffen wie „seggs“ oder „unalive“ die Moderationsfilter der Plattformen, sozusagen als Zensursprache fürs Sichtbarbleiben. Andererseits entstehen Begriffe wie „Tuff“ oder „Aura“, die keine alten Wörter ersetzen, sondern neue Konzepte schaffen: ästhetisch aufgeladene Codes, algorithmisch verstärkt, emotional aufgeladen. Was früher Jugendsprache war, ist heute eine Art neue Alltagssprache, die wir nutzen, weil wir wissen, dass eine Maschine mitliest und mitentscheidet, ob wir gesehen werden oder nicht.
Oder wie der Linguist Adam Aleksic (Autor von „How algorithms are transforming the way we communicate“) sagt: „We are no longer just speaking to each other – we’re also performing for a machine that speaks back in reach.“
Kommunikation ist keine direkte Verbindung mehr zwischen Menschen, sondern ein Dreieck: Sender, Empfänger und Algorithmus.
Bei KI beginnt das Denken oft nicht mehr bei uns, sondern bei der Frage: Wie formuliere ich das für die Maschine? Wir lesen ein Briefing und denken schon daran, wie wir es in Prompts übersetzen. Der erste Impuls ist kein Gedanke mehr, sondern ein Maschinenbefehl. Was wir für Effizienz halten, ist oft stille Denkvermeidung.
Wir verlernen, Komplexität auszuhalten – nicht, weil wir es nicht mehr können, sondern weil wir es uns abgewöhnen. Der Denk-Muskel wird nicht mehr benutzt und verliert an Kraft. Und am Ende merken wir vielleicht gar nicht mehr, dass wir gar nicht mehr merken, was fehlt.


Ordnung 3: Der Moment, in dem wir vergessen, dass es mal anders war
(Zum ganzen Text)


Fünf Gedanken, die uns helfen könnten
1. Wir denken zu kurz, wenn wir nur in Performance messen.
Eine starke Marke ist nicht die, die gerade trendet, sondern die, die bleibt, wenn der Trend längst durch ist.
2. Wir dürfen nicht nur für das System produzieren.
Ein gutes Reel kann Reichweite bringen. Aber eine gute Geschichte kann Bedeutung stiften. Und die wiegt mehr, gerade in einer Welt voller Daten.
3. Wir brauchen Haltung statt nur Taktik.
KI kann vieles tun. Aber wofür wir sie nutzen, liegt bei uns. Vielleicht öfter mal fragen: Was wollen wir nicht automatisieren?
4. Wir sind nicht passiv. Wir sind Gestalter:innen.
Ob eine Marke sichtbar bleibt, entscheidet nicht der Feed.
Es entscheidet sich darin, wie mutig, klar und menschlich wir auftreten, jenseits der Systemschnittstellen.
5. Wir sind mehr als unser Output.


Unsere Ideen sind nicht wertvoll, weil sie klickbar sind.
Sondern weil sie Bedeutung erzeugen. Für andere. Für uns. Für etwas, das bleibt.
Wenn wir unsere Kreativität nicht nur als Produktionsfaktor sehen, sondern als kulturellen Kompass, wenn wir uns nicht glätten, sondern vertiefen, wenn wir nicht fragen: „Was will der Algorithmus hören?“ sondern: „Was muss gesagt werden – so, dass es jemand wirklich fühlt?“ dann entsteht etwas, das bleibt. Vielleicht nicht sofort. Vielleicht nicht viral. Aber wahr. Sichtbarkeit ist heute oft ein Effekt des Systems.


Bedeutung ist etwas anderes. Vielleicht seltener. Aber auch wertvoller. Und nein, wir haben nicht die eine goldene Antwort. Aber wir können Fragen stellen, die nicht nur von Klickzahlen, sondern von Haltung beeinflusst sind.
Die erste Ordnung ist laut.
Die zweite ist leise.
Die dritte ist noch offen.
Vielleicht ist das unsere Chance…
Ein bisschen Hoffnung bitte? Ja, unbedingt!
Denn Systeme können sortieren, aber nur wir können erzählen.
Algorithmen können verstärken, aber nur wir können fühlen.
KI kann helfen, aber Sinn entsteht erst, wenn wir ihn erzeugen.


Über den Autor
Max Penk ist seit Anfang 2023 als Creative Innovation Director bei der Kreativagentur David + Martin tätig und leitet dort seine eigene Unit für Innovationsthemen rund um die digitale Werbung der Zukunft. Penk hat fast seine gesamte berufliche Karriere auf Produktionsseite verbracht. Zwischen 2015 und Ende 2022 war er als Executive Creative Producer bei It’s Us Media in Berlin tätig, davor als Sales Representative und Talent Scout bei Mr. Bob Films und E+P Commercial. Penk ist Mitglied des Art Directors Club für Germany und engagiert sich neben seinem Hauptjob als Dozent für Werberegie und Producing an der Filmakademie Baden-Württemberg.