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Nach Judensternkolumne: Harald Martenstein schreibt nun für Springers „Welt“

Nach Judensternkolumne: Harald Martenstein schreibt nun für Springers „Welt“ Schreibt jetzt für die „Welt“: Harald Martenstein

„Morgen ein brillanter erster Text vom Harald Martenstein in der Welt am Sonntag“, kündigte Ulf Poschardt, Chefredakteur der „Welt“-Gruppe an. In seiner Premieren-Kolumne schildert Martenstein die Trennung vom „Tagesspiegel“ – und sagt, warum er sich um die Branche sorgt.

Berlin – Wie  berichtet hatte Harald Martenstein das Tragen von „Judensternen“ auf Corona-Demonstrationen in seiner sonntäglichen „Tagesspiegel“-Kolumne zwar als „schwer auszuhalten“, aber auch als „sicher nicht: antisemitisch“ beschrieben. Daraufhin distanzierte sich die Chefredaktion von dem Beitrag und löschte den Text. Martenstein, der seit den 1980er-Jahren für den „Tagesspiegel“ schrieb, schmiss als Reaktion darauf bei der Zeitung hin.

 

Die Chefredaktion des „Tagesspiegel“ hatte in einer Stellungnahme mitgeteilt, die Martenstein-Kolumne sei sowohl innerhalb der Redaktion als auch von Leserinnen und Lesern stark kritisiert worden. Man habe sich intensiv mit dieser Kolumne und der Kritik daran auseinandergesetzt, so das Führungteam der Berliner Regionalzeitung, zu dem die Chefredakteure Lorenz Maroldt, Christian Tretbar und die Stellvertretenden Chefredakteure Stephan Haselberger, Anke Myrrhe und Anna Sauerbrey gehören. Man habe mit Kolleginnen und Kollegen, mit Wissenschaftlern und Betroffenen gesprochen und selbstverständlich auch mit dem Autor und sei zu dem Schluss, dass man diese Kolumne so nicht hätten veröffentlichen sollen; „wir haben sie deshalb zurückgezogen“, erklärte die Chefredaktion.

 

Harald Martenstein kritisiert die Aussagen in seiner neuen „Welt am Sonntag“-Kolumne:

„Darin stand, man habe ,selbstverständlich auch mit dem Autor gesprochen‘. Das war mir neu. In der Erklärung wurden ,Standards dieser Redaktion‘ vorgetragen, zum Teil Grundlagen jedweden Journalismus', die ich, dieser Schluss musste sich für die Leser aufdrängen, offenbar allesamt verletzt hatte. Durch was und wie genau, ging aus dem Text nicht hervor. Es war eine Art Vernichtungsversuch, was meine berufliche Reputation angeht.“

 

Martenstein blickt zurück: „Mittags wurde meine Kolumne entfernt und durch die Erklärung ersetzt. Nachmittags kam auf meine Bitte ein Telefonat mit dem zweiten Chefredakteur zustande. Es war ein freundliches Gespräch, mit viel Bedauern auf beiden Seiten. Der Kollege sagte, dass man all das mit zwei, drei zusätzlichen Sätzen in meinem Text, die mich gegen Vorwürfe abschirmen, hätte vermeiden können. Ich gab ihm recht. Heute würde ich es anders schreiben, sagte ich. Aber inzwischen waren längst alle Kinder in sämtliche Brunnen gefallen.“ Er sei nicht gecancelt worden. Man habe ihn lediglich gezwungen, zwischen seiner Selbstachtung und dem „Tagesspiegel“ zu entscheiden. Also habe er eine Abschiedskolumne geschrieben, die immerhin gedruckt worden sei.

 

Der Journalist findet es seltsam, dass ihm die „Tagesspiegel“-Redaktion keinen einzigen Protestbrief zur Verfügung gestellt habe, der sich auf die gelöschte Kolumne bezog. „Kann es sein, dass es die angebliche Protestwelle von Lesern gegen diesen Text gar nicht gab? Sondern nur eine interne, infolge des Cancel-Aufrufes in der Süddeutschen?“, fragt sich Martenstein in der „Welt am Sonntag“.

 

Er ordnet seine Geschichte in einen größeren Zusammenhang ein – und sorgt sich um die Meinungsfreiheit:

„Nach Nationalismus und Kommunismus wächst eine neue totalitäre Ideologie heran, ich nenne sie ,identitär‘, andere ,woke‘. Vom Nationalismus hat sie das Stammesdenken, wir sind besonders wertvoll. Vom Marxismus hat sie die irre Idee geborgt, sie sei keine Meinung, sondern eine Wissenschaft. Sie hat edle Ziele, den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierungen zum Beispiel. Aber sie will die ganze Macht, sie ist unduldsam, sie kann skrupellos sein und brutal, um Andersdenkende auszuschalten. In den Medien wird sie immer mächtiger. Wer seine Meinung schlicht ,die Wahrheit‘ nennt, kann von der Meinungsfreiheit anderer natürlich nichts halten. Meinungsfreiheit ist nicht der historische Normalfall, sie ist eine kostbare Ausnahme. Man muss Tag für Tag um sie kämpfen, sonst ist sie schnell weg, und das ist nicht gut für die Gesundheit. Man darf keinen Mut brauchen, um frei zu sprechen.“

 

Martenstein weiter: „Niemand ist mehr sicher, auch dann nicht, wenn zahlreiche Blechorden in Form von Journalistenpreisen an der Brust baumeln. Das ist eine klare Botschaft an junge Journalisten, niemals einen Satz zu schreiben, mit dem nicht schon mindestens zehn Kollegen durchgekommen sind, ohne unliebsam aufzufallen.“

 

Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt zum Martenstein-Wechsel vom „Tagesspiegel“ zu Axel Springers „Welt“-Gruppe: „An dem Tag, an dem sich die Titelseite des ,Tagesspiegels‘ durch Martensteinlosigkeit auszeichnete, erschien in der ,Welt am Sonntag‘ ein ganzseitiger Text von: Harald Martenstein. ,Ich bin nicht wichtig‘, ist der Artikel übertitelt. ,Nach Nationalismus und Kommunismus wächst eine neue totalitäre Ideologie heran‘, ist in Versalien eingeblockt. Darüber, ähnlich wie im ,Tagesspiegel‘, eine Zeichnung. Sie zeigt Kolumnist Martenstein als Fels in der Brandung und Handke-Lookalike, als alten weißen Mann.“ Der Fels in der Brandung verstehe von vielen Dingen etwas. Auch vom Beleidigtsein und vom Marketing.

 

Ulf Poschardts „Welt“-Gruppe ist nach Ansicht der „SZ“ ein Rückzugsort für polarisierende Kolumnisten. Zu diesem Kreis gehört auch Don Alphonso. Er teilte auf Twitter mit: „Es gibt zum Wochenausklang noch eine sehr erfreuliche Nachricht: Der hochtalentierte Harald Martenstein schreibt bei der ,Welt‘ weiter.“

 

Zur Person: Harald Martenstein (* 9. September 1953 in Mainz) ist ein deutscher Journalist und Autor. Er arbeitete nach dem Abitur am Rabanus-Maurus-Gymnasium in Mainz einige Monate in einem Kibbuz in Israel und studierte dann Geschichte und Romanistik an der Universität Freiburg. In den 1970er-Jahren war Martenstein für einige Zeit Mitglied der DKP. Von 1981 bis 1988 war er Redakteur bei der „Stuttgarter Zeitung“ und von 1988 bis 1997 Redakteur beim „Tagesspiegel“ in Berlin. Dann übernahm Martenstein für kurze Zeit die Leitung der Kulturredaktion bei der „Abendzeitung“ in München, kehrte jedoch wenig später als leitender Redakteur zum „Tagesspiegel“ zurück. Seit 2002 schreibt er eine Kolumne für die ebenfalls zur Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck gehörende „Die Zeit“, zunächst unter dem Titel Lebenszeichen und seit dem 24. Mai 2007 im Rahmen des „Zeit-Magazin“ Leben unter Harald Martenstein. Einige Jahre war Martenstein zudem mit Kolumnen in der „Geo kompakt“ vertreten. Martenstein schrieb bis vorige Woche für jede Sonntagsausgabe des „Tagesspiegels“ eine Kolumne, darüber hinaus auch regelmäßig Glossen zu den Berliner Filmfestspielen und vereinzelt auch größere Reportagen und Essays.