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Texte retten statt nur redigieren – 10 Profi-Hacks von David Selbach für journalistische Notfälle

Texte retten statt nur redigieren – 10 Profi-Hacks von David Selbach für journalistische Notfälle David Selbach (Foto: Wortwert/Rudolf Wichert)

Bei manchen Texten krankt es so sehr, dass es nicht reicht, sie zu redigieren. Sie müssen gerettet werden. Zehn Schritte, mit denen man (fast) jedem Artikel neues Leben einhauchen kann.

Berlin – Ein Text, drei Probleme: kein klarer Fokus, dünne Recherche, hölzerne Zitate. Die mit dem Redigat betraute Kollegin am Rand der Verzweiflung, der Abgabetermin längst überschritten – und die Frage: Kann man so etwas noch retten?

 

Wer Texte redigiert, kennt solche Momente. Man soll glätten, verdichten, strukturieren – doch was tun, wenn das Material kaum tragfähig ist? Genau dann beginnt die eigentliche Arbeit: der Wechsel vom Redigieren zum Retten. Und dafür braucht es mehr als Sprachgefühl – nämlich Strategie.

 

David Selbach gibt im neuen „medium magazin“ zehn Hacks, die mir in solchen Situationen immer wieder den Tag retten:

 

1. Ersteinschätzen
Ich lese das Stück zuallererst aufmerksam zu Ende, auch wenn ich schon nach zwei Sätzen merke, dass hier viel zu tun sein wird. Ja, es ist verführerisch, aktionistisch ab dem ersten Satz loszulegen, aber das kann nach hinten losgehen, denn es kann sein, dass der Text gar nicht zu retten ist. Ich muss also nach der Lektüre einschätzen: Kann ich hier überhaupt noch etwas tun? Ich habe schon Texte in der Erstfassung beerdigt, etwa ein Porträt aus der Lehrredaktion der Kölner Journalistenschule. Der Protagonist, den sich die Redaktion gewünscht hatte, gewährte der jungen Kollegin nur knapp 20 Minuten am Telefon, antwortete sehr sparsam und widerwillig auf ihre Fragen. Sie tat ihr Bestes und versuchte, die Lücken mithilfe seines LinkedIn-Lebenslaufs plus Fachartikeln und den Aussagen aus einem alten Interview aufzufüllen. Aber der Text blieb blutleer, zentrale Punkte fehlten. Und weil klar war, dass der Protagonist kein weiteres Gespräch zulassen würde, wussten wir: Hier war nichts zu retten.

 

2. Stabilisieren
Bei dem Text über die Bike-Trends hatte der Autor in einem Halbsatz angedeutet, dass Fahrradfahrer nicht gleich Fahrradfahrer seien und dass die Hersteller mit neuen Angeboten auf diesen Wunsch nach Individualisierung eingingen. Schön und gut, aber selbstverständlich war das nicht konkret genug. Was sollte sich das Lesepublikum darunter vorstellen? Texte zu retten, muss schnell gehen, aber gerade bei einem komplexen Magazinstück kann so ein Einsatz leicht eine oder zwei Stunden dauern. Diese Zeit nehme ich mir, aber ich brauche womöglich die Hilfe des Autors. Es empfiehlt sich ein persönliches Gespräch. Darin bin ich ehrlich, was den Text angeht. Meine Haltung ist aber immer: Du wirst deine Gründe haben, dass die Sache schiefgegangen ist – sich darüber jetzt zu zanken, bringt uns nicht weiter. Wir retten das Stück gemeinsam, das wäre doch gelacht. Statt der Person Vorwürfe zu machen, dass der Text nicht funktioniert (das weiß sie im Zweifel ja selbst), gebe ich ihr die Möglichkeit, mit mir an der Lösung zu arbeiten. Hier habe ich den Autor gebeten, den Trend zu Gravel- und E-Bikes zu belegen, von denen weiter unten im Text die Rede war. Er sollte Studien dazu im Internet recherchieren. Außerdem hatte ich die Idee, ihn nach Statistiken suchen zu lassen, die zeigen: Gerade in Städten verzichten immer mehr Menschen auf das Auto, geben dafür aber mehr Geld für Fahrräder aus.

 

3. Repositionieren
Wenn die Argumentation unklar ist, es hin und her geht oder ein Aspekt im Text fehlt, ist das manchmal einfach eine Frage der Dramaturgie. Ich habe einmal einen Text bearbeitet, der mit einer länglichen, nachrichtlichen Abhandlung über das Thema KI-Einsatz in Unternehmen anfing. Drei Absätze weiter unten kam endlich ein Beispiel aus der Praxis: ein Mittelständler, der mit einer KI die Behälter im Lager effizienter stapelt – und gute Zitate liefert. Das gehört selbstverständlich an den Anfang. Auch fürs Repositionieren hilft es, den ganzen Text aufmerksam gelesen zu haben. Manchmal findet man, was man braucht, einfach an der falschen Stelle. Aber es ist da. Grundregel: Ich sortiere nach dem klassischen Aufbau – ein Protagonist für ein Thema in einem Absatz. Nur in Ausnahmefällen bekommt ein Auftritt einer Protagonistin zwei Absätze und noch seltener darf die Person an mehreren Stellen im Text auftreten. Wenn ein Thema wie ein Störfaktor im Fließtext wirkt, kann ich es in einen Beistellertext, einen Infokasten oder sogar ein Interview auslagern. Überhaupt ist es oft einfacher, einen Text neu zu formatieren, als ihn umzuschreiben. Aus einem langatmigen Lauftext mache ich dann zum Beispiel ein Q&A oder eine Strecke mit „Sieben Tipps“.

 

4. Infusion legen

5. Amputieren

6. Desinfizieren

7. Implantieren

8. Wiederbeleben

9. Reevaluieren

10. Im Zweifel: für tot erklären

Zu den Hacks

 

Must-Reads im neuen „medium magazin“

  • AN DER KETTE: Befristete Verträge werden zur Regel. Dabei zermürben sie vor allem Talente.
  • KI: Profi-Prompts von Eva Wolfangel & Co. 
  • ZIELSCHEIBE: Wie man Protagonisten schützt.
  • AI OVERVIEWS: Was tun gegen Googles Antwortmaschine?

 

DER AUTOR

David Selbach (50) ist Diplom-Volkswirt, Absolvent der Kölner Journalistenschule (KJS) und Mitgründer der Wirtschaftsredaktion Wortwert in Köln. Er schreibt seit 25 Jahren für Magazine und Zeitungen wie „Impulse“, „Wirtschaftswoche“, „Zeit“, „Handelsblatt“, FAZ und „Brand eins“. Immer wieder ist er in seinem Job auch Textchef und Texte-Retter. Selbach gibt sein Wissen weiter: Seit rund 19 Jahren bildet er Volontäre bei Wortwert aus, arbeitet außerdem als Trainer, u. a. seit 2010 als KJS-Lehrredakteur.