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Newsroom – Rupert Sommer

Wie Georg Löwisch bei der Zeit jetzt auf Sinnsuche geht – und warum er die „taz“ vermisst

Wie Georg Löwisch bei der Zeit jetzt auf Sinnsuche geht – und warum er die „taz“ vermisst Georg Löwisch (Foto: Anja Weber/Die Zeit)

Georg Löwisch, Chefredakteur der Zeit-Beilage „Christ & Welt“, erläutert, was er sich inhaltlich von der neuen Print-Online-Plattform „Zeit Sinn“ erhofft.

Hamburg – Große Fragen wälzen und heimlich von der „taz“-Kantine schwärmen: Georg Löwisch, Chefredakteur der Zeit-Beilage „Christ & Welt“, vormals Chefredakteur der „taz“, erläutert im Interview, was er sich inhaltlich von der neuen Print-Online-Plattform „Zeit Sinn“ erhofft.

 

Herr Löwisch, nicht nur nach der Bundestagswahl sind noch viele Zukunftsfragen offen. Natürlich hat auch die Weltlage dazu geführt, dass die Verunsicherung bei weiten Teilen vermutlich auch der Zeit-Leser groß ist. Wie stark spüren Sie in den Redaktionen die erhöhte Herausforderung, Dinge gerade zu rücken, klärend und beruhigend zu agieren sowie sich auch weitreichenden Sinnfragen zu stellen?

Georg Löwisch: Mein Eindruck ist, dass sich Kommunikation noch einmal beschleunigt hat. Sie rast. Von einigen Debatten bekommen viele Menschen nur Wortfetzen mit. Andere möchten gar nicht mehr teilnehmen, vielleicht auch, weil sie ahnen, dass die Debatte eh gleich wieder vorbeizischen wird. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Nachrichten müssen schnell vermeldet werden. Problematisch sind aber die Reaktionen in Echtzeit, das Kommentieren ohne nachzudenken. Es entsteht eine wilde Jagd nach schnellen Antworten. Weil alles so atemlos abläuft, wollen viele Menschen auch mal richtig Luft holen. Sie wollen tief nachdenken, gründlich überlegen, genau nachempfinden.

 

Auch wenn man unterstellen darf, dass Sie wie viele Journalistenkollegen mit beiden auf dem Boden stehen: Wie stark haben Sie persönliche Verunsicherungen, etwa durch die zwischenzeitliche Perspektivenlosigkeit unter schweren Pandemiebedingungen, eigentlich persönlich getroffen?

Ich hatte Glück, weil niemand in meiner Familie und meinem Freundeskreis richtig schwer an Covid erkrankt ist. Im Grunde bin ich gut durchgekommen. Aber dieses Durchkommen, dieses sich Durchschlagen, dieses sich Durchoptimieren auf die Pandemiebedingungen hin, hat mir immer mehr missfallen. Sogar wenn ich abends alles super geschafft hatte, konnte ich mich irgendwie nicht darüber freuen.

 

Woran haben Sie sich aufgerichtet?

Einmal Ende Mai bin ich mit einer ehemaligen Kollegin in einem Berliner Park spazieren gewesen. Die Kollegin treffe ich unglaublich gern. Aber dieses endlose pandemische Spazierengehen! Immer Spazierengehen, Spazierengehen, Spazierengehen. Dann kamen wir an ein kleines Restaurant, es war plötzlich offen, wir waren erst etwas unsicher, ob man sich setzen darf. Fünf Minuten später stand eine Flasche Wein auf dem Tisch, von drinnen duftete es nach Pizza. Wofür leben wir? Auch für den leichten, den ungeplanten Moment. Das habe ich da sehr gespürt.

 

Wie stark ist das Bedürfnis nach der Klärung von sinnsuchenden Fragen, die weit über die übliche Berichterstattung und Einordnung hinausgehen, bei den Zeit-Lesern ausgeprägt?

Sinn-Themen zu stärken entspricht einem großen Wunsch der Leserschaft. Wir haben das Institut aserto beauftragt, Leserinnen und Leser zu befragen. Nicht nur Abonnentinnen und Abonnenten, sondern auch den Weitesten Leserkreis von Zeit und Zeit Online, also Menschen, die noch nicht zur Stammkundschaft gehören, sondern die unser Potenzial darstellen. Die für mich spannendste Antwort war, dass 42 Prozent sagten: "Ich suche im Leben stets nach einem tieferen Sinn." Besonders stark ist das Interesse bei Frauen zwischen 35 und 65 Jahren.

 

Welche Themen werden konkret an Sie herangetragen?

In der Befragung haben unsere Leserinnen und Leser ganz konkrete Momente angesprochen, die mit Sinnfragen verbunden sind. Die zweite Lebenshälfte, runde Geburtstage, Schicksalsschläge, herausragende Erlebnisse wie die Geburt von Kindern oder Enkeln, biografische Schritte wie Berufswechsel oder Renteneintritt. Diese Momente sind für viele ein Anlass, über ihr Leben nachzudenken. Klar ist gleichzeitig, dass die Anziehung bei diesen Themen für die Zeit-Leserschaft in einer fairen, also ebenso kritischen wie zugewandten Perspektive besteht. Mit dem Projekt "Wofür leben wir?" möchten wir den Themen rund um Sinnsuche und Sinnstiftung künftig einen besonderen Platz im Zeit-Universum verschaffen.

 

Inwiefern unterscheiden sich eigentlich „Christ & Welt“-Leser von gewöhnlicheren

„Zeit“-Lesern?

Zunächst mal sind die Abonnentinnen und Abonnenten der Zeit gut zur Hälfte Mitglied einer Kirche. Die Christ & Welt-Leserinnen und Leser sind es fast alle, davon übrigens je zur Hälfte katholisch und evangelisch. 84 Prozent sind „sehr“ oder „eher“ zufrieden mit ihren sechs Extraseiten „Christ & Welt“, sie nutzen sie ausgiebig und zahlen für ihr Abonnement einen wöchentlichen Aufpreis. Unter ihnen beantworten 72 Prozent die Frage mit Ja, ob sie im Leben stets nach einem tieferen Sinn suchen. Auf diese Abonnenten-Gruppe der Hoch-Zufriedenen sind wir ziemlich stolz, und wir werden ihnen unter dem gewohnten Titel weiter ein attraktives Angebot machen. Das Sinn-Projekt wird für viele von ihnen sicher interessant sein. Es greift aber bewusst viel weiter aus, nicht allein, weil es ein Print-Online-Projekt ist, sondern auch bei der Zielgruppe: Wir wollen Menschen erreichen, die Sinn auch jenseits von Religionen suchen.

 

Das Projekt „Wofür leben wir?“ will sich auch solchen Themen stellen: Worum geht es?

Ein Leser hat kürzlich gesagt, „Wofür leben wir?“ sei eine sehr kostbare Frage. Das fand ich schön. Die Frage ist auch ziemlich direkt. Man stellt sie, und prompt entsteht ein Gespräch. Wir wollen mit dieser Frage und den Sinn-Themen auf Zeit Online begeistern – und dort so sichtbar sein wie möglich, unter anderem durch die neue Seite zeit.de/sinn. Und wir schreiben wöchentlich einen Sinn-Newsletter. Er soll die Aufmerksamkeit gezielt auf die Sinn-Themen aus der ganzen Zeit-Gruppe richten. Der Newsletter kommt immer am Freitagnachmittag, wenn der Alltagsstress von vielen abfällt und sie den Nachrichtenturbo ausstellen wollen. Dann schreiben meine Kollegin Merle Schmalenbach und mein Kollege Kilian Trotier über sieben tiefe Fragen. In der Sinnsuche sind im Übrigen die Fragen mindestens so wichtig wie die Antworten. Was berührt mich? Wie komme ich klar? Aber auch: Wie erkläre ich mir die Welt zwischen Naturwissenschaften, Spiritualität und Philosophie?

 

Worauf dürfen sich die Leser konkret freuen?

Zum Auftakt fragen wir beispielsweise die Comedian Carolin Kebekus, wofür sie lebt, und reden mit ihr über die Liebe zu ihrer Großmutter, den Tod und das Jüngste Gericht. Wir haben die Schriftstellerin Simone Buchholz gebeten, zwei Briefe zu schreiben - einen an ihre Mutter und einen an ihren Sohn. Thomas Assheuer, der seit Jahrzehnten über philosophische Themen im Feuilleton der Zeit geschrieben hat, denkt darüber nach, was Sinn in Zeiten der Klimakrise bedeutet. Die Theologin Johanna Haberer erklärt, warum die Seele wichtiger ist denn je, und Arno Frank geht der Frage nach, welche Urtriebe sich Bahn brechen, wenn der Mensch im Auto sitzt.

 

Wie muss man sich die Zusammenarbeit zwischen Print- und Online-Kollegen sowie über die Ressortgrenzen hinweg konkret vorstellen?

Mein Team wird sehr eng mit dem Zeit Online-Magazin-Ressort von Carmen Böker zusammenarbeiten, wo eine neue Stelle geschaffen wurde. Das ist schon im Entwicklungsprozess so angelegt, den Leonie Seifert, die stellvertretende Chefredakteurin von Zeit Online, und Patrik Schwarz der Geschäftsführende Redakteur der „Zeit“, mit mir gemeinsam gestaltet haben. Vom Start an wird das Zeit Sinn-Team einerseits selber schreiben, aber andererseits auch Beiträge aus den verschiedenen Teilen des Hauses zusätzlich herausstellen. Wir möchten das Sinnthema ja für die ganze Verlagsgruppe stärken. Wir spüren Beiträge und Ideen zum Thema auf, um sie dann mit unserem Scheinwerfer noch mehr zum Strahlen zu bringen.

 

Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle innerhalb der „Zeit“-Redaktion, was solche, aber auch was konkrete Redaktionsalltagsfragen betrifft?

Einmal mache ich jede Woche „Christ & Welt“ mit aller blattmacherischen Leidenschaft. Das tun zu dürfen, ist schon ein ziemliches Privileg. Dann geht es jetzt darum, mit der Sinn-Plattform neue Potenziale auszuloten und auszutesten. Wir probieren, was geht. Es wird spannend sein zu lernen, wie man ein existenzielles Thema so angeht, dass es Menschen, die Sinn suchen, wirklich weiterbringt. Der Reiz war in den vergangenen Monaten natürlich auch, Kompetenzen und Ideen zusammenzudenken. Ich finde gern das Verbindende. Diesmal ist es das Sinn-Thema und zwar über die Grenzen der einzelnen Redaktionen in der Zeit-Gruppe hinaus und in großartigen Gesprächen mit den Kolleginnen und Kollegen im Verlag. Ich bin auf viel Aufgeschlossenheit, Neugier und Leidenschaft gestoßen. Das war gut.

 

Wie sehr juckt es Sie gelegentlich eigentlich noch selbst in den Fingern, Themen nicht nur anzustoßen und mitzuentwickeln, sondern auch selbst zu verfolgen und journalistisch in die Tiefe zu gehen?

Mich juckt es eher oft in den Fingern. Und ich habe jetzt in diesem Job die Gelegenheit, auch zuzugreifen. Gerade der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche, mit dem mein Kollege Raoul Löbbert und ich uns intensiv befasst haben, war eine Möglichkeit, mal wieder direkt selbst einzusteigen. Investigative Geschichten habe ich in der taz ja immer nur abgesichert. Jetzt recherchiere und schreibe ich wieder selbst. Vorletzte Woche war ich in Fulda bei der Versammlung der Bischöfe und habe auf einer Bank im Schlosspark eine schnelle Reportage für Zeit Online geschrieben. Kurz vor der Bundestagswahl habe ich mit der Kollegin Jagoda Marinic in einem Text die Frage erörtert, welche Rolle Angst im Wahlkampf gespielt hat.

 

Sie sind ja Anfang vergangenen Jahres neu zur Zeit-Gruppe gekommen: Wie "sinnhaft" war im ersten Rückblick der Wechsel für Sie?

Ich lerne viel in der Zeit, sie ist ein sehr erfolgreiches Unternehmen, das eine eigene Kultur hat und eine wichtige Rolle im Diskurs spielt. Und es ist einfach toll, wie frei ich mich bewegen kann. Ich kann hier einfach Journalismus machen.

 

Wie sehr unterscheidet sich das Arbeiten bei der Zeit eigentlich von jenem bei der taz und wie sehr vermissen Sie gelegentlich die frühere Tätigkeit?

Meine Arbeit heute unterscheidet sich alleine deshalb sehr, weil ich jetzt ein kleines Team leite und nicht mehr eine dann doch große Redaktion mit mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten. Freude macht beides. Und das Vermissen: Wenn ich in Berlin mit dem Rad am taz-Haus vorbeifahre, denke ich schon manchmal: Hm, schade, dass ich heute nicht wie früher in dieser exzellenten Kantine zu Mittag essen werde und danach mit den anderen noch auf einen tazpresso in den Garten kann.

 

Hintergrund: „Die Zeit“ und Zeit Online starten am 6. Oktober die Print-Online-Plattform Zeit Sinn. Dafür wird ein gemeinsames Team rund um den Themenbereich Sinnsuche gebildet. Unter der Fragestellung „Wofür leben wir?“ richtet sich das Angebot an Menschen, für die die Sinnfrage zentral ist – sowohl in ihrem persönlichen Leben als auch im Verständnis der Welt. Die Beiträge erscheinen auf Zeit Online (www.zeit.de/sinn). Gleichzeitig startet der neue wöchentliche Newsletter „Wofür leben wir?“ für Sinnsucher und Sinnstifter, der ab 8. Oktober wöchentlich verschickt wird. Auch in der Printausgabe sowie in der wöchentlichen „Zeit“-Beilage „Christ & Welt“ stärkt das Team den Themenbereich. Chefredakteur der Zeit ist Giovanni di Lorenzo. Er sagt: „Vom deutschen Lyriker Emanuel Geibel stammt der schöne Satz 'Wenn die Götter ihr verjagt, kommen die Gespenster.' Gerade in diesen erratischen Zeiten, die so kirchenfern wie nie wirken, ist das Bedürfnis nach Spiritualität groß. Dem wollen wir mit Zeit Sinn gerecht werden.“