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Ständig zu viel Stress: So wird Achtsamkeit für Sie nicht zur Falle

Ständig zu viel Stress: So wird Achtsamkeit für Sie nicht zur Falle Mediencoach Attila Albert

Grundsätzlich ein gutes Konzept, aber häufig missbraucht: „Achtsamkeit“ kann bei kurzfristiger Überlastung helfen, langfristig aber überfällige Veränderungen verschleppen und das Problem damit noch verschärfen. Mediencoach Attila Albert sagt, wie Sie sich vor dieser Falle schützen.

Berlin – Seit mehr als fünf Jahren war dem Newsdesk-Chef einer Nachrichtenseite klar, dass er den täglichen Stress nicht dauerhaft durchhalten konnte. Er rettete sich, ständig erschöpft und von körperlichen Symptomen geplagt, möglichst oft in freie Tage oder Urlaub. Dachte an sein Gehalt, seine Verpflichtungen, dass sein Verlag angesehen, die Arbeit nicht nur schlecht war – und blieb. Im Kursangebot des HR entdeckte er einen „Achtsamkeitskurs“ gegen zu viel Stress. Würde das vielleicht sein Problem lösen?

 

Schon seit vielen Jahren ist Überlastung ein Schwerpunktthema für Medienprofis. Galten einst mangelhafte Arbeitsorganisation und unzureichendes Zeitmanagement als wichtigste Gründe dafür, sind diese Bereiche längst "optimiert". Ohne aber, dass der Stress geringer geworden wäre, im Gegenteil. Inzwischen hat sich der Fokus zur persönlichen Einstellung zum Stress verlagert, und "Achtsamkeit" gilt als populäre Methode, daran zu arbeiten. So sehr, dass sie schon fast zum Allheilmittel gegen alle Arten von Überlastung erklärt ist.

 

In einem vierteiligen Experten-Podcast zum Thema Stressreduzierung einer Krankenkasse (u.a. mit Jürgen Domian, Sarah Kuttner) habe ich kürzlich auch dazu diskutiert. Mein Fazit: "Achtsamkeit" – oft auch auf Englisch: "Mindfulness" – ist ein gutes Konzept, um Belastungen aufzufangen, hat aber seine Grenzen und wird häufig missbraucht, um überfällige Entscheidungen zu verschleppen. In diesem Beitrag daher heute einige Gedanken dazu, wie Sie sich vor dieser Falle schützen.

 

Konzept kommt Arbeitgebern entgegen 

„Achtsamkeit“ als Konzept stammt aus der amerikanischen New-Age-Bewegung der 70er und wurde u.a. durch Jon Kabat-Zinn popularisiert („Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“, 1991). Es nutzt, wie häufig im Esoterikbereich, Ideen und Praktiken aus Buddhismus und Hinduismus, aber stark vereinfacht und ihrer eigentlichen spirituellen Anliegen beraubt. Stattdessen sollen sie nun bei sehr weltlichen Herausforderungen helfen, vor allem bei Arbeitsüberlastung oder zu viel Verantwortung, um sie dauerhaft bewältigen zu können. 

 

Zu den typischen Methoden gehören: Stilles Sitzen und Meditieren mit oder ohne Anleitung, Selbstbeobachtung der eigenen Atmung („Breathwork“), des gesamten Körpers („Body Scan“) und der eigenen täglichen Verrichtungen sowie absichtlich langsames Gehen oder Ausführen von Yoga-Übungen. Diese Elemente werden in einer Vielzahl von Varianten empfohlen, sei es als tägliche Routine, einwöchiges Seminar ("Retreat") oder fortlaufende berufsbegleitende Schulung. Auch entsprechende Apps und Lernprogramme gibt es.

 

Gute Methoden, fragwürdige Motive 

Vielen Arbeitgebern kommt dieser Ansatz entgegen. Denn im Grunde ermutigt er Mitarbeiter, nicht etwa strukturelle Mängel (z.B. zu kleine Teams, Zielkonflikte) energisch anzugehen, sondern den Fehler zuerst und vor allem bei sich bzw. der eigenen Einstellung zu suchen – und vorerst weiter zu funktionieren. Entsprechend haben derartige Programme in vielen Unternehmen Einzug gehalten. In Form angeblicher "Selbsthilfegruppen", als Yoga- und Meditations-Tage oder strukturierte Schulungsprogramme wie „Search Inside Yourself“. 

 

Als Karriere-Coach für Medienprofis, der auch viel davon ausprobiert hat, würde ich sagen: Gegen die meisten Methoden ist wenig zu sagen, aber viel gegen den missbräuchlichen Gebrauch und überzogene Heilsversprechen. Was den New-Age- bzw. Esoterik-Faktor angeht: Persönliche Geschmackssache. Auffällig ist für mich in der Praxis zusätzlich, wie viele das körperliche Verletzungsrisiko bei Yoga unterschätzen und neben einem drohenden Burnout dann auch noch einen Bandscheibenvorfall, Zerrungen o.ä. bewältigen müssen.

 

Achtsamkeit löst keine Strukturprobleme

Strukturelle Probleme lassen sich mit „Achtsamkeit“ kurzzeitig verdrängen, aber nicht lösen. Verzögern Sie das ewig, indem Sie z.B. verstärkt meditieren anstatt Ihre Situation aktiv zu verbessern, werden Sie die Folgen umso stärker treffen. Typisch im Redaktionsalltag: Zu wenige Mitarbeiter, unklare Hierarchien, verweigerte Vorgesetzten-Entscheidungen. Hier genügt es auf Dauer nicht, dass Sie Ihre Einstellung dazu ändern. Sie benötigen eine echte Lösung, die diskutiert und konsequent verhandelt werden muss – oder einen neuen Job. 

 

Überlastung ist nicht nur Einstellungssache

Arbeitsüberlastung oder zu viel Verantwortung sollten Sie nicht wie subjektive Gefühle behandeln, die sich mit der richtigen Einstellung ändern lassen. Sondern: Objektiv ermitteln, wie belastet Sie tatsächlich sind. Der einfachste Weg ist, eine Woche lang Ihre Aktivitäten in 15-Minuten-Schritten zu notieren oder einmal zu addieren, wie viele Arbeitsstunden Ihre Aufgaben eigentlich rechnerisch erfordern. Einiges lässt sich mit besserer Organisation (z.B. Projektmanagement-Tool) verbessern. Oft aber zeigt sich: Sie sind völlig überplant.

 

Ungesunde Tendenzen werden noch verstärkt

Bei drei Veranlagungen verstärkt „Achtsamkeit“ bereits vorhandene ungesunde Denk- und Verhaltensweisen noch: Wenn Sie die Tendenz haben, problematische Situationen (z.B. ständige Überlastung) über Gebühr auszuhalten anstatt sie zu verändern oder zu verlassen, wenn Sie schon jetzt zu übertriebener Selbstbezogenheit (Egozentrik) neigen oder generell schwer Nein sagen können, etwa aus Angst, andere zu enttäuschen. In diesen Fällen ist "Achtsamkeit" besonders riskant, wären Therapie oder Coaching bessere Wege für Sie.

 

An Einstellung und Rahmenbedingungen arbeiten

Als Konzept baut „Achtsamkeit“ vor allem darauf, die Selbstbeobachtung zu verstärken und real vorhandene Herausforderungen zumindest zeitweise auszublenden oder zu relativieren. Das kann hilfreich sein in Situationen, die Sie tatsächlich erst einmal nicht ändern können, sondern durchhalten müssen. Spätestens mittelfristig (nach maximal 6 bis 9 Monaten) sollte aber zwingend hinzukommen, dass Sie an Ihren Rahmenbedingungen arbeiten: Ihre Lage klar analysieren, Ihren Bedarf feststellen und mit anderen verhandeln – oder wechseln.

 

Achtsamkeit gilt auch für andere

Ein wichtiger Punkt, der häufig vergessen wird: Bei „Achtsamkeit“ darf es nicht immer nur um Sie gehen. Auch anderen gegenüber sollten Sie sich entsprechend verhalten. Vor allem aber prüfen, wie"„achtsam“ eigentlich Ihre Unternehmensleitung und Ihre Vorgesetzten Ihnen gegenüber sind, wenn es etwa um realistische Ziele, Ressourcen (Stellen, Budget, Zeit) oder die allgemeine Unternehmenskultur geht. Oft zeigt sich bei dieser Betrachtung, dass sich hinter der angeblichen „Achtsamkeit” nur ein passiv-aggressiver Führungsstil versteckt.

 

Leiden Sie unter beruflicher oder privater Überlastung, können Ihnen die Methoden der „Achtsamkeit“ also tatsächlich zeitweise helfen, sie besser zu bewältigen. Lassen Sie sich deswegen aber nicht einreden, dass Sie nun für alles selbst verantwortlich wären und es ansonsten an Ihrer Einstellung läge. Wer Ihnen gegenüber so argumentiert, spricht Ihnen nicht nur das Urteilsvermögen ab, sondern entzieht sich auch seiner Führungsverantwortung und manipuliert Sie auf subtile Weise. Dann brauchen Sie keine neuen Übungen, sondern einen besseren Arbeitgeber.

 

Zur vergangenen Job-Kolumne: Wie finde ich meinen Lebenssinn?

 

Zum Autor: Karriere-Coach Attila Albert (geb. 1972) begleitet Medienprofis bei beruflichen Veränderungen. Er hat mehr als 25 Jahre journalistisch gearbeitet, u.a. bei der „Freien Presse“, bei Axel Springer und Ringier. Begleitend studierte er BWL, Webentwicklung und absolvierte eine Coaching-Ausbildung in den USA. www.media-dynamics.org.

 

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