Journalismus
B.Ü.

Yannick Dillinger: Hat sich der Aufwand für das Storytelling Überlingen gelohnt?

Yannick Dillinger: Hat sich der Aufwand für das Storytelling Überlingen gelohnt? Yannick Dillinger.

Anfang Juli hat die "Schwäbische Zeitung" ihr bisher größtes Online-Projekt veröffentlicht: ein Multimedia-Special zu "15 Jahre Flugzeugunglück Überlingen". Einen Monat später zieht Yannick Dillinger, stellvertretender Chefredakteur der "Schwäbischen", auf Newsroom.de Bilanz.

Ravensburg - Haben wir unsere Ziele erreicht? Was können wir aus dem Projekt lernen? Sind solche Leuchttürme überhaupt zielführend – obwohl wir doch eigentlich wissen, dass vor allem die Relevanz der Geschichten, die tagtäglich in unseren Redaktionen entstehen, das Entscheidende ist?

 

Die nackten Zahlen gleich zu Beginn: Google Analytics hat für „Schmerz“ bis 1. August, also für den ersten Monat, rund 120 000 Seitenaufrufe (erzeugt bei rund 9000 einzelnen Aufrufen) gezählt. Das Storytelling ist damit das klickstärkste in der Geschichte von schwäbische.de (Hier sind alle Storytellings der Schwäbischen aufgeführt). 86 Prozent der Besucher haben aus Baden-Württemberg auf „Schmerz“ zugegriffen. 47 Prozent der Leser sind weiblich, 53 Prozent männlich.

 

Die Altersverteilung:

 

18 – 24 Jahre: rund 21 Prozent
25 – 34 Jahre: rund 35 Prozent
35 – 44 Jahre: rund 22 Prozent
45 – 54 Jahre: rund 12 Prozent
55 – 64 Jahre: rund 5 Prozent
65+ Jahre: rund 4 Prozent


Auf den redaktionellen Facebook Pages der Schwäbischen haben 961 Menschen beim Teaservideo zum Storytelling den Daumen nach oben gezeigt. Das Video ist 194.418 Mal aufgerufen worden. Der Beitrag wurde 375 Mal geteilt. 127 Menschen haben unter dem Teaservideo Erinnerungen an das Unglück ausgetauscht. Einige Reaktionen haben wir in einem Nachdreher abgebildet.

 

Was bedeutet das nun für uns? Einiges! Abgesehen von den für uns wirklich guten Zugriffszahlen und den tollen Reaktionen sind zwei weitere Aspekte erfreulich: Eine große Mehrheit der Besucher von „Schmerz“ kommt aus unserer Region. Wir haben also vor allem jene Menschen erreicht, die die Zukunft unseres Journalismus sichern (sollen). Wie hier im kress.de-Interview beschrieben: Die Wahrheit liegt für uns nicht auf Twitter, sondern in Spaichingen, Laichingen und Bad Saulgau.

 

Extrem begeistert uns auch die Altersstruktur der Besucher: Wir haben mit „Schmerz“ eine für unsere Verhältnisse junge Zielgruppe erreicht. 56 Prozent sind jünger als 34. Das bestärkt uns in der Überzeugung, dass es nicht blinken und blitzen muss, um jüngere Menschen zu überzeugen. Die Schnittmenge unserer Leser ist regionale Relevanz. Wenn wir dann Darstellungsformen und Ausspielkanäle verwenden, die der Mediennutzung von jüngeren Zielgruppen Rechnung tragen, haben wir eine Chance.

 

Neben den Zahlen ist für uns auch sehr wichtig, aus dem Projektverlauf zu lernen. Wir haben bei „Schmerz“ vieles gut und einiges weniger gut gemacht.

 

Zunächst zum Positiven:

 

Wir haben die Relevanz des Themas richtig eingeschätzt.

 

Wir haben das Projekt von Beginn an gut strukturiert.

 

Wir haben die richtige Kernmannschaft und die passende punktuelle Unterstützung ausgewählt.

 

Wir haben die idealen Protagonisten gefunden.

 

Wir haben die relevanten Kanäle Facebook, WhatsApp und Instagram passend bespielt.

 

Wir haben die Cross-Verlinkung mit der gedruckten Seite Drei gut hinbekommen.

 

Wir haben bei den Darstellungen unseren Qualitätsanspruch eingehalten.

 

Wir haben das Spezial so gestaltet, dass es recht zeitlos ist und zum Evergreen werden könnte.

 

Wir haben innerhalb der Redaktion gut kommuniziert.

 

Nun zum Verbesserungswürdigen:

 

Wir hätten den Fortschritt des Projekts besser dokumentieren sollen.

 

Wir hätten „Schmerz“ nicht nebenbei stemmen sollen – das hat unnötig Kraft gekostet.

 

Wir hätten früher Teilbereiche abschließen sollen, damit die russische Übersetzungen frühzeitiger hätte beginnen können.

 

Wir hätten noch klarer kommunizieren sollen, dass die russische Übersetzung für uns eine einmalige Sache und eindeutig dem Thema geschuldet ist.

 

Wir hätten einen zentralen, für alle Beteiligten von überall erreichbaren Ablageort für das Rohmaterial finden sollen.

 

Und jetzt?

 

Ab jetzt gilt wieder der Grundsatz, dass wir den Alltag glänzen lassen. Die relevanten und Tag für Tag umgesetzten Themen unserer Redakteure sind ganz eindeutig das Pfund, mit dem wir wuchern. Wir nutzen Analysetools, um Themen früh zu identifizieren, in der passenden Form aufzubereiten und optimal auszuspielen. Wir ergänzen unsere Autorenstücke mit serviceorientierten, interaktiven Karten, um die Verweildauer zu erhöhen, wir produzieren einfachere, zeitlose Storytellings, um unser Angebot mit Überraschungen zu garnieren. Wir fertigen Hands-on-Erklärvideos an, um zusätzliche Tiefe in unsere Berichterstattung zu bringen. Wir testen simple 360 Grad-Projekte, um umfassend zu informieren. Wir experimentieren und bleiben in Bewegung. Wir lernen dazu und entwickeln uns weiter. Wir arbeiten dateninformiert und werten ehrlich aus.

 

Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir uns mal wieder ein solches Storytelling „gönnen“ werden. Wir sehen an den zahlreichen Reaktionen, dass wir sehr viele Menschen mit diesem Spezial überrascht und überzeugt haben. Wir haben uns mit unserem Bezahlmodell auf schwäbische.de ganz klar dem Qualitätsjournalismus verschrieben. Dazu gehört auch, Ausrufezeichen zu setzen.

 

Jetzt geht’s aber ohnehin erst mal wieder in den Maschinenraum unter Deck: Mit umfangreichen Relaunches werden wir uns auch technisch und usability-seitig auf einen ganz neuen Stand bringen.

 

Yannick Dillinger

 

Hintergrund: Unser Gastautor Yannick Dillinger ist stellvertretender Chefredakteur und Digitalchef bei der "Schwäbischen Zeitung" mit Sitz in Ravensburg. Dieser Beitrag ist zuerst in seinem Blog erschienen.

 

Interview mit Yannick Dillinger auf kress.de: Wie die "Schwäbische Zeitung" an die Flugzeugkatastrophe von Überlingen erinnert