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Stefan Aust: „Die meisten Journalisten überschätzen sich“

Von „Konkret“ bis zur „Welt“ − Stefan Aust gilt als einer der wichtigsten Journalisten in Deutschland. Der frühere „Spiegel“-Chef wird 70 und ist immer noch mitten im Geschehen.

Berlin (dpa) − Die meisten Journalisten überschätzten ihren Einfluss, sagt Stefan Aust. Dabei hat der heutige Herausgeber und Chefredakteur von „Welt/N24“ immer wieder gezeigt, dass Journalismus manchmal auch etwas bewirkt. „Ich nehme mir das Vorrecht, Sachen so zu beurteilen, wie ich sie sehe“, sagt der frühere „Spiegel“-Chefredakteur im Interview der Deutschen Presse-Agentur zu seinem 70. Geburtstag an diesem Freitag (1.7.).

 

Sie waren bei „Konkret“, Reporter bei „Panorama“, Chef beim „Spiegel“ − jetzt blicken Sie als Chefredakteur von „Welt/N24“ auf die Baustelle der künftigen Digital-Zentrale von Axel Springer. Gibt es da einen roten Faden in ihrer Arbeitsbiografie?

Ich weiß nicht, ob der Faden rot ist. Da unten war der Platz, auf dem am 11. April 1968 die große Demonstration gegen Axel Springer stattfand. Am Abend vorher war ich mit Rudi Dutschke zum Essen. Wir waren zuvor zusammen in Prag und wollten zusammen eine Geschichte über den „Prager Frühling“ für „Konkret“ schreiben. Er wollte dafür am nächsten Morgen noch Unterlagen aus dem SDS-Zentrum holen und wurde auf der Straße niedergeschossen und schwer verletzt. Ich habe dort noch sein umgestürztes Fahrrad und die große Blutlache gesehen. Dann ging ich mit Ulrike Meinhof zur Anti-Springer-Demo.

 

Bei „Konkret“ lernten sie Ulrike Meinhof kennen, die spätere Mitgründerin der Roten Armee Fraktion (RAF), die mit dem Herausgeber Klaus Rainer Röhl verheiratet war ...

Ich habe praktisch einen Tag nach dem Abitur bei „Konkret“ angefangen, ich kannte den Herausgeber Klaus Rainer Röhl über seinen Bruder, mit dem ich in Stade Schülerzeitung gemacht hatte. Und Ulrike Meinhof war damals bei „Konkret“ Kolumnistin. Eigentlich wollte ich Betriebswirtschaft studieren und Verlagskaufmann werden. Aber zu Beginn der Studentenbewegung war es so spannend, dass ich das Studium erstmal beiseite gelegt habe. Ich blieb dann durch die ganze Zeit der „Außerparlamentarischen Opposition“ dabei, von ‚66 bis ‚69. Ich habe dort viel gelernt, redigieren, Bilder aussuchen, Überschriften, Layout, alles, was man bei einem Magazin so braucht. Ich wollte Zeitung machen, es waren weniger politische Gründe, warum ich da hingegangen bin.

Rührt Ihre spätere Beschäftigung mit der RAF aus dieser Zeit?

Ganz sicher. Ich kannte einige Leute, die später in den Untergrund gegangen sind und hatte die linke Szene gut kennengelernt, als junger Journalist. Insofern war es weniger so, dass sich ein Autor ein Thema gesucht hat, sondern eher, dass sich ein Thema einen Autoren gesucht hat. Von Horst Mahler, der als linker Anwalt anfing, zur RAF ging und jetzt als Rechtsradikaler wegen Holocaust-Leugnung und Volksverhetzung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, bis zum RAF-Anwalt Otto Schily, der spätere Bundesinnenminister, kannte ich sehr viele führende Mitglieder der Studentenbewegung. Natürlich auch Rudi Dutschke.

Und jetzt sind Sie Chefredakteur bei Springer − die Rache der Geschichte?

Das hat mit Rache und Geschichte nichts zu tun. Im Leben entwickeln sich die Dinge, und Zufälle bekommen manchmal im Rückblick eine scheinbare Logik. Nach vorne gesehen ist es immer Zufall.

Bei „Panorama“ und beim „Spiegel“ haben Sie mit Ihren Dokumentationen und Büchern Themen gesetzt. Heute werden die Medien als „Lügenpresse“ beschimpft ...

Ich nicht.

Aber die Medien insgesamt. Spüren Sie eine Klimaveränderung?

Kann schon sein. Die meisten Journalisten überschätzen sich selbst und die Macht der Medien. Wenn jemand von der „vierten Gewalt“ redet, werde ich ganz nervös. Das ist eine ziemliche Anmaßung. Früher, in den 50er und 60er Jahren, war die herrschende Meinung ziemlich konservativ. Ob nun bei „Konkret“ oder später bei „Panorama“ oder beim „Spiegel“: Wir haben versucht, uns mit den Regierenden kritisch auseinanderzusetzen, auch anzulegen. Wenn man damals die Regierung, den Kapitalismus, das System kritisierte, lautete die Standardreaktion: „Dann geh doch nach drüben − in die DDR“. Heute ist die herrschende Meinung eher links-grün. Da heißt es dann gern: „Du bist ja konservativ“ − oder Schlimmeres. Ich nehme mir das Vorrecht, Sachen so zu beurteilen, wie ich sie sehe. Im Übrigen auch nicht viel anders als früher. Deswegen finde ich es auch sehr gut, bei einer Zeitung zu sein, in der es eine große Breite an Meinungen und Positionen gibt.

Auch zwischen den Springer-Blättern „Bild“ und „Welt“ ...

Da gibt es ähnliche, aber auch ganz unterschiedliche Positionen. Auch in der „Welt“ sind zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage unterschiedliche Sichtweisen zu Wort gekommen. Ich war von Anfang an sehr skeptisch in Bezug auf die „Willkommenskultur“ und die Proklamierung der offenen Grenzen. Ich bin schon zu lange im Geschäft, um mich von Wunschdenken leiten zu lassen. Was die Bundesregierung versucht hat zu vermeiden, haben andere für sie gemacht, nämlich die Grenzen zu schließen. Wäre die Balkanroute noch offen und hätten wir jeden Tag weiter 10 000 Flüchtlinge, wäre die Regierung in argen Schwierigkeiten.

Sie kommen von traditionellen Medien zu einem digitalen Konzern. Was hat sich in Ihrer Sicht auf den Journalismus geändert?

Eigentlich nichts. Es ging und es geht vor allem um Inhalte. Und ich komme ja auch nicht von alten Medien. Ich war viele Jahre beim Fernsehen, habe dann „Spiegel TV“ gegründet, die erste politische Magazinsendung im privaten Fernsehen. Wir haben beim „Spiegel“ mit Online angefangen. „Der Spiegel“ war das erste Magazin, das eine Online-Seite hatte, einen Tag vor „Time“. Die hatten nämlich vorher verkündet, wann sie online gehen wollen. Da haben wir dann einen Tag früher angefangen − damit wir in den nächsten 30 Jahren sagen konnten, wir waren die ersten. Aber eins ist klar: Wir handeln nicht mit Holz beziehungsweise Papier, sondern mit Inhalten. Und wenn es neue Transportmöglichkeiten für Inhalte gibt, müssen wir mitmachen, am besten ganz vorn. Sonst verschwinden wir vom Markt. Die „Welt“ hat da früher als viele andere die entscheidenden Weichen gestellt.

Jetzt sind Sie für Gedrucktes, online und TV zuständig ...

Axel Springer ist bei dieser Konvergenz bahnbrechend. Der Verlag hat frühzeitig in Anzeigenportale investiert − und zwar sehr erfolgreich. Und man setzt hier konsequent auf digitalen Journalismus. Bei „Spiegel Online“ kann man sehen, dass es besser ist, früh dran zu sein, als spät zu starten. Man darf aber nicht unterschlagen, dass das mit vielen Problemen beladen ist. Journalismus online heißt ja, dass er sich irgendwann aus sich selbst finanzieren muss. Das ist nicht so einfach. Journalismus hat sich nämlich selbst nie nur über den zahlenden Leser finanziert, sondern immer auch über Anzeigen. Ulrike Meinhof, als sie noch Journalistin und keine Terroristin war, hat das schöne Wort gesagt „Zeitschriften sind Unternehmungen, die Anzeigenraum produzieren als Ware, die durch den redaktionellen Inhalt absetzbar wird“. Das ist zynisch gesagt, aber es ist etwas Richtiges daran.

Und was ändert sich beim Journalismus?

Wenn sie im Internet Inhalte verkaufen wollen, wird der Journalismus selbst zur Ware, für die Leute dann direkt bezahlen müssen. Das sind sie bisher kaum gewohnt. Aber es wird sich ändern. Bezahlsysteme werden sich durchsetzen. Die „Welt“ war Vorreiter und hat in Deutschland schon vor Jahren als erste große überregionale Zeitung ein Online-Bezahlsystem eingeführt. Wir haben dadurch viel gelernt und auch im Digitalen viele zahlende Leser für die „Welt“ gewinnen können.

Wie hat sich im Netz der Journalismus verändert?

Gravierend. Bei Online zählt die Geschwindigkeit. Alles muss schnell raus. Wenn wir heute auf „welt.de“ eine große Nachricht veröffentlichen, ist sie im Bruchteil einer Sekunde überall. Jeder kann sie lesen, aufgreifen, teilen.

Geht dadurch Exklusivität verloren?

Exklusivität gibt es nur für einen virtuellen Moment. Und das Investigative wird wie ein Mantra hochgehalten. Aber Recherche ist der Kern des Journalismus, das gilt für jeden. Aber es ist eben mühevoll, Materialen zusammenzutragen und dann daraus Geschichten zu machen. Und man muss eben einen gewissen Biss haben...

... und Geld ...

... nicht unbedingt. Gewiss, um den Lebensunterhalt zu bestreiten oder für Recherchen und eine Reise. Aber die wichtigsten Sachen, die ich herausgefunden habe, waren nicht eine Frage des Geldes, sondern des Nachdenkens, der Zähigkeit. Zum Beispiel die NSU-Geschichten, die wir jetzt bei der „Welt“ weiter verfolgen. Als ich beim „Spiegel“ anfing, habe ich gesagt: „Wir sind kein Nachrichtenmagazin mehr. Wenn wir nur Nachrichten machen, sind wir bald tot.“ Es geht darum, Hintergrundgeschichten gut aufzuschreiben, Zusammenhänge herzustellen; auch Aufklärung kann und muss ein Lesevergnügen mit sich bringen. Das haben die Zeitungen ja schon seit geraumer Zeit gemerkt und sich von der reinen Nachrichtenvermittlung weiterentwickelt. Die vielen TV-Nachrichtensendungen haben den Zeitungen die Exklusivität der News weggenommen. Und was früher etwa „Stern“ oder „Spiegel“ an Hintergrundrecherchen praktisch exklusiv hatten, steht heute auch in den Tageszeitungen, der „Welt“, der „Süddeutschen“ und anderen.

Sie haben am Abend des Mauerfalls am 9. November 1989 in einem TV-Kommentar gesagt: „Meine Damen und Herren, das war der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging.“ Wo stehen wir heute?

Das war vielleicht der treffendste Satz, den ich in meinem Leben gesagt habe. Der Mauerfall markierte ja wirklich eine Zeitenwende. Es war das Ende der vom Ausgang des Zweiten Weltkrieges geprägten Weltordnung. Wo wir heute stehen, wissen wir nicht wirklich. Im Juli 1914 hat sich auch kaum einer ernsthaft vorstellen können, dass wenig später Europa in einen schrecklichen Krieg geraten würde. Im Kalten Krieg standen wir theoretisch jede Minute vor dem Dritten Weltkrieg. Wir sind durch den Mauerfall und den Untergang des Kommunismus etwas verwöhnt. Es gab damals Leute, die vom Ende der Geschichte geredet haben − ziemlicher Schwachsinn. Inzwischen sind viele Konflikte ausgebrochen, etwa das mörderische Chaos im Nahen Osten. Durch die Flüchtlingswelle sind wir darin direkt involviert. Was daraus wird? Ich bin zwar nicht pessimistisch veranlagt...

... aber Sie sehen Bruchstellen ...

Die Bruchstellen bestehen im Wesentlichen darin, dass man eine EU geschaffen hat mit der Absicht, die Grenzen nach innen zu öffnen und nach außen zu sichern. Und das funktioniert erkennbar nicht, wenn Teile der Welt in Trümmer fallen. Denn dann gibt es sehr wenige Bewohner der verarmten Regionen und der Konfliktgebiete, die nicht gern nach Europa kommen würden. Auf diese Realität müssen wir uns einstellen.

Welche Rolle spielen die Medien dabei? 

Journalisten müssen sagen und schreiben, was ist. Wie die wirkliche Lage sich darstellt. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Politik das mit Rücksicht auf Wahlen, Koalitionspartner oder andere Regierungen, in deren Abhängigkeit man sich begeben hat, nicht wirklich tut. Da gibt es für die Medien einiges an Aufgaben.



ZUR PERSON: Stefan Aust, 1946 geboren in Stade, gilt als einer der wichtigsten Journalisten Deutschlands. Als Bestseller-Autor («Der Baader-Meinhof-Komplex») und langjähriger Chefredakteur des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ (1994 bis 2008) hat er das öffentliche Gespräch der Bundesrepublik geprägt. Zurzeit ist er Herausgeber und Chefredakteur von „WeltN24“.