Vermischtes
KNA – Joachim Heinz

Auf der dunklen Seite der Macht: Die russische Agentur Tass wird 100 Jahre alt

Im Reigen der großen Nachrichtenagenturen nimmt die russische Tass eine Sonderstellung ein. Das liegt an ihrer Gründungsgeschichte. Und an den politischen Verhältnissen in Russland.

Moskau (KNA) – Neulich im englischen Dienst der russischen Agentur Tass: Außenminister Sergej Lawrow poltert wieder einmal gegen die Ukraine. Die deutschen und die modernen ukrainischen Nazis teilten dieselben Ansichten, zitiert die Tass den seit 2004 amtierenden Außenamtschef. „Die Nazis verbrannten Juden, nur weil sie Juden waren, und die ukrainischen Nazis verbrannten am 2. Mai 2014 in Odessa russische Menschen, nur weil sie Russen waren.“

 

Die Zusammenstöße zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Demonstranten in der ukrainischen Hafenstadt am Schwarzen Meer führten 2014 zu über 40 Toten aufseiten der prorussischen Aktivisten. Die ukrainischen Behörden taten wenig, um die Täter zu ermitteln. Soweit die Fakten. Die von Lawrow gezogene Parallele zu den Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten vor mehr als 80 Jahren fügt sich dagegen ein in die Strategie der russischen Regierung: das eigene Volk auf eine Fortsetzung des von Russland begonnenen Krieges gegen das Nachbarland einzuschwören.

 

„Zu hundert Prozent auf Kreml-Linie“

Für Beobachter wie Birger Schütz von Reporter ohne Grenzen ist das alles wenig überraschend. Zwar kämen russische Nachrichtenagenturen wie die Tass oder RIA Nowosti im Ton oft gemäßigter daher als die großen TV-Sender Perwij Kanal, Rossija 1 und Russia Today. Aus dem Fernsehen bezögen etwa 70 Prozent der Bevölkerung ihre Nachrichten. „Das ändert inhaltlich aber nichts daran, dass auch die Tass zu hundert Prozent auf der Kreml-Linie liegt.“ Das Geld kommt schließlich vom Staat. Und der stand vor 100 Jahren, am 10. Juli 1925, auch Pate bei der Gründung der „Telegrafenagentur der Sowjetunion“.

Die neue Agentur wurde der damaligen Regierung unterstellt, dem Rat der Volkskommissare. Mit ihren mehr als 290 Mitarbeitern konnte sie nach Ansicht ihres ersten Chefredakteurs Jakov Doleckij durchaus mit „den größten amerikanischen Weltagenturen“ mithalten. Anders jedoch als etwa AP oder United Press griffen staatliche Stellen bei der Tass von Anfang an immer wieder in die Tasten. Das gehörte auch schon bei deren Vorläufern zum guten Ton, der vom letzten russischen Zaren Nikolaus II. im Jahr 1904 gegründeten Sankt Petersburger Telegrafenagentur und der 1918 entstandenen Russischen Telegrafenagentur ROSTA.

 

Nachrichtenlieferant für 4.000 Zeitungen

Mediengeschichtlich markierte der 10. Juli 1925 einen Meilenstein, wie Alexander Ruslan Schejngeit in seiner 2021 erschienenen Studie über die Anfänge der Agentur schreibt: „Die Gründung der Tass im Sommer 1925 symbolisierte die mediale Entmachtung der Sowjetrepubliken sowie die Zentralisierung und Konsolidierung des sowjetischen Informationsraums.“ In ihren besten Zeiten belieferte die Tass 4.000 sowjetische Zeitungen, unterhielt 682 Büros im In- und 94 im Ausland.

 

Das Tass-Personal der ersten Stunde rekrutierte sich zu einem guten Teil aus der ROSTA. Dazu gehörte auch der aus Polen stammende ehemalige Berufsrevolutionär Doleckij, eigentlich Jakob Fenigstein, der einer bürgerlichen Warschauer Familie entstammte, wie Schejngeit festhält. Der erste Leiter der Agentur sprach fließend Polnisch, Deutsch und Russisch. Darüber hinaus konnte sich Doleckij auf Englisch und Französisch verständigen, was ihn laut Schejngeit als Vertreter des europäischen Bildungsbürgertums auswies.

 

„Eine große Angelegenheit, aber ...“

Das wurde dem Chefredakteur in der Terrorphase unter Sowjetführer Stalin zum Verhängnis. „Die Tass ist eine große Angelegenheit, aber sie ist durch allerlei kleinbürgerliche Kreaturen verunreinigt.“ Mit diesen Worten gab der paranoide Diktator im August 1936 den Startschuss für die Säuberungswelle bei der Agentur. Als knapp ein Jahr später die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes vor Doleckijs Wohnung standen, nahm sich der auch intern durch Intrigen in die Enge getriebene Chefredakteur das Leben.

 

Die Tass blieb fest an der Seite der Mächtigen. „Das Volk soll wissen, was es wissen muss; was es wissen darf, das entscheidet die Obrigkeit“ – so formulierte vor Jahren Karl Grobe in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die unausgesprochene Devise. Das trieb mitunter merkwürdige Blüten. Als sich die Sowjetunion 1940 Litauen einverleibte und zur Bestätigung in dem Land eine zweitägige Volksabstimmung inszeniert wurde, wusste und meldete die Tass schon am ersten Tag das Endergebnis.


„Tass ist ermächtigt zu erklären“

Zögerlicher verfuhren die Verantwortlichen mit Meldungen, die ein schlechtes Licht auf den Staat oder die politische Führung werfen konnten. Über sowjetische Raumflüge erfuhr die Öffentlichkeit üblicherweise erst nach deren erfolgreichen Abschluss. Und die Katastrophe im Atomreaktor von Tschernobyl am 26. April 1986 handelte die Tass erst zwei Tage später in wenigen dürren Sätzen ab: „Ein Reaktor wurde beschädigt. Maßnahmen zur Beseitigung der Unfallfolgen werden ergriffen. Den Geschädigten wird Hilfe geleistet. Eine Regierungskommission ist gebildet worden.“

Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1990 blieb die Agentur für westliche Journalisten und Politiker gleichwohl ein wichtiges Informationsmedium. Hier konnten Beobachter herauslesen, welchen offiziellen Kurs die führende Macht des Ostblocks verfolgte. Entsprechend amtlich waren viele Meldungen aufgemacht. „Tass ist ermächtigt zu erklären“, hieß es dann.

 

Kurzer Aufbruch in eine neue Welt

Mit dem Ende der Sowjetunion keimte kurzzeitig Hoffnung auf eine Art Nachrichten-Perestroika. „Tatsächlich sollte Tass zu Beginn der 1990er-Jahre demokratisiert und unabhängiger vom Staat werden“, sagt Birger Schütz von Reporter ohne Grenzen. Bis in die 2000er-Jahre habe die Agentur, die nun unter Itar-Tass firmierte, trotz ihrer Nähe zur jeweiligen Regierung journalistische Standards weitgehend eingehalten. „Spätestens mit der Okkupation der Krim 2014 und der gleichzeitigen Rückkehr zur sowjetischen Bezeichnung ‚Tass‘ endete diese Phase jedoch.“

 

Wohin die Reise seither gegangen ist, zeigte sich schlaglichtartig im August 2024: Damals erhielten die Tass-Mitarbeiter auf Erlass des russischen Präsidenten Putin „für ihren großen Beitrag zur Entwicklung der russischen Medien und ihre beruflichen Leistungen“ den Orden für verdienstvolle Arbeit. Die besteht aktuell darin, dass die circa 1.700 Angestellten pro Tag etwa 3.000 Fotos, Videos und Texte in sechs Sprachen herausgeben.

 

In ihrer Rangliste der Pressefreiheit stufen Reporter ohne Grenzen die Lage in Russland als „sehr ernst“ ein – der schlechtesten von fünf Wertungsmöglichkeiten. „Kritische Berichterstatter werden als ausländische Agenten eingestuft, Medien als unerwünschte Organisationen juristisch verfolgt, die Kontrolle des Internets verschärft“, so Schütz. Viele unabhängige Medienschaffende hätten Russland längst verlassen; gegenwärtig säßen 50 Journalistinnen und Journalisten hinter Gittern. „Informationen im Land stammen hauptsächlich aus dem staatlich kontrollierten Fernsehen – aber auch von staatsnahen Presseagenturen.“

 

Unter keinem guten Stern

Es sieht düster aus im Reich von Wladimir Putin – und das gilt nach dem Urteil von Reporter ohne Grenzen eben auch für die Presse- und Meinungsfreiheit. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Tass laut Eigendarstellung aus dem vergangenen Jahr als weltweit einziges Massenmedium einen Außenposten im All, auf der internationalen Weltraumstation ISS, unterhält. Oder kürzlich in Moskau den verstorbenen Papst Franziskus mit einer Fotoausstellung ehrte.

 

„Er wird uns als ein Mann in Erinnerung bleiben, der für den Glauben, für traditionelle Werte, gegen Entmenschlichung und generell gegen all die Prozesse kämpfte, die wir heute in der westlichen Welt beobachten“, hieß es bei der Eröffnung. Der Sound dürfte Lesern der englischen Website der Tass vertraut vorkommen.